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Adrien Proust schrieb auch Kulturessays, vielleicht sogar inspiriert von seinem Sohn Marcel.

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Lothar Müllers Buch über Adrien und Marcel Proust: Das Geheimnis der Seerosen

Die Ärzte, die Kunst und die Gesellschaft in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts: Lothar Müllers lesenswertes Buch über Adrien Proust und seinen Sohn.

In Marcel Prousts Großroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ spielt der Vater des Erzählers nur eine untergeordnete Rolle. Trotzdem lässt sich immer wieder erkennen, wie skeptisch dieser Vater den einzelnen Regungen seines Sohnes (ohne Gutenachtkuss der Mutter kein Schlaf) und dessen beruflichem Werdegang gegenübersteht.

Im zweiten Band „Im Schatten junger Mädchenblüte“ heißt es, als offensichtlich geworden ist, dass der Erzähler keine Diplomatenlaufbahn einschlagen wird und der Diplomat Marquis de Norpois zum Abendessen zu Gast ist: „Mein Vater empfand für meine Art von Begabung eine von zärtlicher Liebe genügend gemilderte Geringschätzung, dass seine generelle Reaktion gegenüber allem, was ich trieb, in blinder Nachsicht bestand“.

Es ist gut möglich, dass dem auch in der Wirklichkeit so war. Dass Adrien Proust, der Vater von Marcel Proust und als Generalinspekteur des französischen Gesundheitswesens Frankreichs oberster Mediziner, diese blinde Nachsicht gegenüber dem Charakter und literarischen Ambitionen des Sohnes an den Tag legte, bis zu seinem Tod 1903.

Porträt einer Epoche

Marcel Proust war da erst 32 Jahre alt. Außer Texte in Zeitungen und Magazinen hatte er bis dahin nur den Erzählband „Freuden und Tage“ veröffentlicht. Dass sich dennoch beide von Berufs wegen gegenseitig inspirierten, der Vater den Sohn natürlich vor allem erst nach seinem Tod, das erzählt nun der Literaturwissenschaftler und langjährige „SZ“-Feuilletonredakteur Lothar Müller in seinem fulminanten und klugen Buch „Adrien Proust und sein Sohn Marcel“. (Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 224 S., 22 €.)

Ihm sei es weniger um ein Doppelporträt gegangen, erklärt Müller im Vorwort, als vielmehr darum, „das System kommunizierender Röhren sichtbar zu machen, das Literatur und Medizin im späten 19. Jahrhundert verband und in dem beide agierten.“

Müllers Buch ist tatsächlich das Porträt einer Epoche geworden, der „Belle Époche“ oder des „Fin de Siècle“, wie die Zeit Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts genannt wird. Die Wissenschaften, speziell die Medizin, bilden darin einen Schwerpunkt.

Typus des regierungsnahen Mediziners

Nachdem er erst die Unterschiede in den gemalten Porträts von Vater und Sohn herausgearbeitet hat (hier der Wissenschaftler im Stil eines Gelehrtenporträts der Renaissance, dort der angehende Schriftsteller als Modell „mondäner Salonbesucher“ mit einer Orchidee am Jacketrevers), wendet sich Müller dem Schaffen des Vaters und dessen Arbeitsumfeld zu: den berühmten Ärzten aus dem Salpêtrière-Krankenhaus von Jean-Martin Charcot über Paul Brouardel bis zu Joseph Babinski, aber auch Robert Koch und Sigmund Freud.

Adrien Proust, der 1834 in Illiers geboren wurde, hatte in jungen Jahren schon Karriere gemacht und bekämpfte als Hygieniker und „Typus des regierungsnahen Mediziners" (Müller) die Seuchen des 19. Jahrhunderts: die Pest, das Gelbfieber und insbesondere die Cholera, deren Ausbreitung er an den Außengrenzen Europas und am Suezkanal in den Griff zu bekommen versuchte.

Mit vielen anderen medizinischen Fachgebieten vertraut und Autor einer unüberschaubaren Zahl von Publikationen, hatte Adrien Proust auch ein Standardwerk über die Behandlung der Neurasthenie geschrieben, hatte über Sprachstörungen geforscht und auch an Asthma und nicht zuletzt an Hysterie Erkrankte behandelt, daher die Verbindung zur Salpêtrière.

Kurz vor seinem Tod hielt er zwei Reden, einmal bei der Enthüllung eines Denkmals für Louis Pasteur, einmal vor Schülern in Illiers, seinem Heimatort, in dem er selbst zur Schule gegangen war. In beiden Reden, untersucht Müller, finden sich Passagen, die vom Sohn stammen könnten, sicher aber von ihm inspiriert sind.

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Zum Beispiel eine Hommage an die Seerosen (eigentlich ein Graus für den Hygieniker), die mit den Gemälden der gerade in Paris für Aufsehen sorgenden englischen Präraffaeliten verknüpft wird: „Und die Seerosen inmitten der natürlichen Tapisserie“ seien, so Müller, „im Roman von Marcel Proust besser aufgehoben als im Plädoyer für die Hygiene in Illiers."

Umgekehrt ist es so, dass der Vater im Roman des Sohnes, dessen erster Band erst 1913 erscheint, zwar kaum eine Rolle spielt, die Medizin und die Berufsgruppe der Ärzte dafür eine umso größere: von Cottard, dem häufig wie eine Karikatur gezeichneten Getreuen des Salons der Madame Verdurin bis zu den zahlreichen Ärzten, die sich gewissermaßen die Klinke in die Hand geben am Totenbett der Großmutter des Erzählers: eine der – mit dem Schlaganfall der Großmutter einsetzenden – eindrücklichsten und großartigsten Szenen in der gesamten „Recherche“.

So finden sich die Krankheiten jener Zeit, insbesondere die Neurasthenie, das Asthma, an dem Marcel Proust von jungen Jahren an litt, und die Schlafstörungen ihren Widerhall in der Romanwelt des Sohnes, dessen medizinisches Wissen nicht zuletzt auf die Bibliothek seines Vaters verweist, wie Müller es herausarbeitet. Aber: „Das Stimmengewirr der Salons fehlt in dieser Bibliothek, und vor allem das Scharnier zwischen Salon und Klinik, die Zeitung.“

Auch Freud ließ sich in Paris inspirieren

Müller erzählt schließlich beispielsweise von einem Text des Schriftstellers Alphonse Daudet, den und dessen Familie auch Marcel Proust kennenlernen sollte, über seine Erfahrungen in der Salpêtrière; er erzählt von den Verbindungen zwischen den Daudets und der Familie Charcot, von einem Roman des Daudet-Sohns Léon, „Les Morticoles“, der eine Abrechnung mit der Macht der Mediziner in der Dritten Republik ist, oder von den Klatschgeschichten des berühmten Tagebuchschreibers und ständigen Salonhockers Edmond de Goncourt.

Auch Freud als Hörer der Vorlesungen in der Salpêtrière hat einen bezeichnenden Auftritt, so wie einer der Ärzte in der „Recherche“, der sich statt der Sorgen um die Großmutter des Erzählers mehr solche um sein Aussehen macht: Müller zitiert aus einem Brief Freuds an seine Verlobte über einen Empfang in der Privatwohnung Charcots und wie dieser darin sein Outfit und die Einrichtung genauestens beschreibt. „Es ist ihm klar, dass die Einladung eine Chance darstellt, neue Verbindungen im Netzwerk der Salpêtrière zu knüpfen.“

In manchen Passagen erinnert Müllers Buch nicht nur an Julian Barnes' Anfang des Jahres veröffentlichtes Buch „Der Mann im roten Rock“ über den Arzt und Kunstkenner Samuel Pozzi (bei dem wiederum Prousts Bruder Robert Assistent war), nein, es ist komplexer, konzentrierter und geordneter.

Müller verliert sein Thema, seine beiden Hauptprotagonisten nie aus den Augen. Er schließt die vielen Reisen des Vaters, insbesondere in den Orient, mit der Begeisterung des Sohnes und eben auch des Erzählers in Prousts Romanwerk für die Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“ kurz.

Venedig war für beide ein Flucht- und Bezugspunkt

Dabei liefert er wie nebenbei noch die französische Übersetzungsgeschichte dieses Werkes. Müller vergleicht die Anthropologiebegeisterung jener Zeit mit der Verwendung von Begriffen wie Rasse, Klasse und Kaste in der „Recherche“; und er parallelisiert schließlich die Reisen des Vaters und des Sohns nach Venedig. Während der Vater die bildende Kunst „als Zeugin der Medizingeschichte in Anspruch“ nimmt, ist Venedig für den Sohn in seinem Werk ein ewiger Flucht- und Bezugspunkt.

Auch der oben erwähnte, fiktive Marquis de Norpois hat mit dem realen Adrien Proust einiges zu tun, wie Müller darlegt: Er unterhält im Roman enge Beziehungen zu den Herausgebern der „Revue des deux mondes“, für die auch Adrien Proust schrieb, er ist Mitglied der Schuldenkommission für Ägypten nach dem Bau des Suezkanals, den Adrien Proust immer wieder wegen der Cholera im Blick hatte.

Und, vielleicht am wichtigsten: „Er gehört der Académie des sciences morales et politiques an, vor der Adrien Proust Vorträge hielt und in die er vergeblich hoffte, berufen zu werden."

Was Adrien Proust wohl zum Prix Goncourt für seinen Sohn 1919, dessen beginnendem Ruhm noch zu Lebzeiten und erst recht danach gesagt hätte? In der Medizingeschichte ist Adrien Proust als Arzt eine Legende, er gilt als Wegbereiter der Weltgesundheitsorganisation.

Müllers Verdienst ist es, nicht zuletzt gerade jetzt, in unserer pandemischen Zeit, ihm mit diesem außergewöhnlichen Buch einen gebührend ehrenvollen Platz an der Seite seines ungleich berühmteren Sohnes verschafft zu haben.

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