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Sprechende Hände. Der 27-jährige Maestro Lorenzo Viotti.

© Marcia Lessa

Lorenzo Viotti dirigiert die Staatskapelle: Wie nah ist zu nah?

Auf Tuchfühlung mit den Profimusikern: Lorenzo Viotti und die Staatskapelle zu Gast im Pierre Boulez Saal.

Nanu, ist die Technik im Pierre Boulez Saal schon wieder kaputt? Um die neue Kammermusik-Halle so variabel wie möglich zu halten, wurden doch extra Sitze mit umklappbarer Lehne eingebaut. Dadurch lassen sich die Elemente des Zuschauer-Ovals je nach Bedarf einzeln unter die umlaufenden Flächen schieben – um beispielsweise Platz für ein Podium zu schaffen, auf dem die Musiker bei Orchesterkonzerten sitzen. Bei Barenboims Zyklus der Schubert-Sinfonien wurde das erfolgreich ausprobiert.

Nein, nein, alles ist intakt, versichert eine Mitarbeiterin des Hauses. Es war die Entscheidung der Staatskapelle, bei ihren Gastauftritten jetzt zentral in der Mitte zu sitzen. Auch wenn es am Dienstag dort so eng ist, dass sich die Bögen der Geigen und die Nasen der Zuschauer fast berühren. Und wer hinter den Kontrabässen sitzt, der kann zwar sehen, wie Lorenzo Viotti mit weichen Bewegungen und versonnenem Lächeln Transparenz und Leichtigkeit in Joseph Haydns Sinfonie Nr. 104 herzustellen versucht. Aber er hört vor allem: Schrubbschrubbschrubb, brumm. Brumm-brumm, schrubb. Und so weiter. Also nur das harmonische Fundament.

Man mag das spannend finden, so unmittelbar mit den Ausführenden in Berührung zu kommen, den Profis bei ihrer Handarbeit auf die Finger zu schauen. Wer sich aber dafür interessiert, wie gut ein Dirigent das Zusammenspiel der Stimmgruppen zu koordinieren versteht und ob die Klangbalance stimmt, der hat keine Chance. Weil sich ein objektiver Klangeindruck ja nur dann einstellen kann, wenn die Schallwellen genug Entfaltungsraum haben, bevor sie aufs Trommelfell des Zuhörers treffen.

Technisch brillante Solisten

Für das nächste Stück werden die Bässe umgesetzt, dorthin, wo gerade die Pauken anderen Besuchern in den Ohren lagen. Akustisch ist der Weg nun frei – nur leider enttäuscht jetzt Lorenzo Viotti. Schostakowitschs Konzert für Klavier, Trompete und Streicher von 1933 ist pure Provokation, das genialisch-freche Werk eines jungen Mannes, der die akademische Welt durch Satire aus den Angeln heben will. Der 27-jährige Dirigent aber interessiert sich kaum für das komische Element, fokussiert stattdessen ganz auf die lyrischen Passagen der Partitur, kommt, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, ins Schwelgen. Den parodistischen Passagen dagegen fehlt die innere Spannung, der Biss. So klingt diese Zukunftsmusik dann doch nur wie Tschaikowsky mit ein paar Dissonanzen. Schade, denn mit Bertrand Chamayou und Mathias Müller stehen Viotti zwei technisch brillante Solisten zur Seite.

Nach der Pause ist seine Dramaturgie überzeugender, wenn er Bachs Choral „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ mit jener Sinfonie kombiniert, die Arthur Honegger 1942 unter dem Eindruck der deutschen Besetzung Frankreichs komponiert hat. Im verdunkelten Saal erhebt sich erst die barocke Klage, dann ihr modernes Pendant, das herber ist, aber ebenso ausdrucksstark.

Konzentriert und klangvoll

Weil der Dirigent hier hörbar mit dem Herzen dabei ist, gelingt es ihm, Intensität und Dringlichkeit herzustellen. Die Staatskapelle folgt ihm konzentriert und klangvoll, bis sich im Finalsatz der Kreis schließt, wenn Honegger inmitten eines verzweifelten instrumentalen Stimmengewirrs eine trostspendende Choralmelodie aufscheinen lässt.

Bleibt nur noch eine Frage offen: Die Staatskapelle hat 136 Planstellen und muss wegen der Sanierungsarbeiten in ihrem Stammhaus derzeit keinen Dienst in der Oper leisten. Warum bitteschön lässt sich eine 44-köpfige Besetzung wie am Dienstag dann nicht aus den eigenen Reihen zusammenbringen, sondern nur mithilfe von sieben Stipendiaten und zwei externen Gästen?

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