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Simon Rattle und sein Londoner Orchester am Mittwoch Abend in der Philharmonie.

©  Adam Janisch

London Symphony Orchestra beim Musikfest: Mystik und Klarheit

Zum Musikfest kehrt Simon Rattle zurück ans Berliner Pult – mit dem London Symphony Orchestra und Musik von Hans Abrahamsen und Olivier Messiaen.

Das Musikfest Berlin steht nicht im Verdacht, die Schätze seines Programms allzu penetrant herauszuposaunen. Lieber kalkuliert man vorsichtig mit nie wirklich vollen Sälen. Der dritte Ensemble-Besuch aus London aber wird mit einer Unterzeile beworben, die ebenso wahr wie wirksam ist. Sie lautet: „Erstes Gastspiel des London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Simon Rattle.“ Parallel zur letzten Saison als Chef der Berliner Philharmoniker startete der Brite 2017 das Londoner Abenteuer. Nachdem sein Nachfolger Kirill Petrenko nun offiziell den Taktstock in der Philharmonie übernommen hat, kommt Rattles neue musikalische Familie von der Themse an die Spree – und alle wollen dabei sein. Trotz eines Programms mit Werken von Hans Abrahamsen und Olivier Messiaen ist das Haus proppenvoll.

In London kann Rattle sein, was in seinem Berliner Jobprofil partout nicht vorgesehen war: endlich Elder Statesman. Während in der Philharmonie seine mediale Jugendlichkeit auch mit grauen Haaren lange Zeit gerne genommen wurde, hielt sich bis zum Schluss eine Opposition im Orchester, die Rattle schlicht die Fähigkeit zu tieferen musikalischen Einsichten absprach. Auf der anderen Seite muss wohl ewig offen bleiben, ob die Berliner Philharmoniker die eigenwillige Ironie ihres Chefs wirklich immer verstehen konnten. Das Publikum jedenfalls hat Sehnsucht nach Rattle, es empfängt ihn mit einer Welle warmer Wertschätzung, wie er sie in seiner Berliner Zeit längst nicht immer erleben durfte. Der 64-Jährige wirkt entspannt und präsent, ohne die Notwendigkeit, stets auch mimisch nachlegen zu müssen. Moderne Musik liegt auf den Pulten, doch das ist noch lange kein Grund, sich vorauseilend zu verkrampfen.

Schneelandschaft in Berlin

Der Däne Hans Abrahamsen gehört zu jenen Komponisten, die in Rattles Berliner Jahren zu einer Erweiterung des Repertoires beitragen sollten. Sein Werk „Let Me Tell You“ für Sopran und Orchester entstand gar als Auftragswerk der Stiftung Berliner Philharmoniker. Kurz vor Weihnachten 2013 erlebte es seine Uraufführung in Berlin und verwandelte die Stadt zumindest akustisch in eine Schneelandschaft. Im Zentrum steht Ophelia, herausgeholt aus dem Schatten, den ihr irrlichternder Liebster Hamlet wirft, abgelöst auch von den Bildern der im Fluss treibenden, für immer verstummten Schönheit. Doch eigentlich bildet Barbara Hannigan den Mittelpunkt. Für die kanadische Sopranistin hat Abrahamsen „Let Me Tell You“ komponiert, ob um sie herum oder durch sie hindurch, das lässt sich nicht zweifelsfrei sagen. Es scheint, als ob die Musik sich ganz der Geschmeidigkeit ihrer Stimme verdankt, nicht existieren würde, ohne diese feine Membran zwischen Trauer und Selbstbehauptung unter gelegentlichem Stottern, wie es beim Opernahnen Monteverdi schon zu finden ist.

Drei Piccolo-Flöten, umschwebt von flirrend hohen Streichern: hier existiert nichts, woran man sich festhalten könnte. Hannigans Ophelia tastet sich durch ihre Erinnerungen, gerät in das Kraftfeld einer gleißenden Sonne, in dem sie sich zerbrechlich fühlt wie Glas. Dann schreitet sie hinaus ins Freie, in den Schnee, für dessen glitzernd-knisterndes Klanggewand der Ligeti-Schüler Abrahamsen sehr feine, dabei wenig irritierende Wendungen gefunden hat. Man folgt ihm leicht eingelullt, weil man mit Hannigan ohnehin überall hingehen würde. Auch wenn Rattle und sein Londoner Orchester cool und luftig musizieren: Ohne diese Sängerin scheint „Let Me Tell You“ kaum lebensfähig.

Eine Ahnung von ewigem Licht

Nach der Pause folgt eine hochintensive Stunde Messiaen mit „Éclairs sur l’Au-delà (Streiflichter über das Jenseits)“, seinem Vermächtniswerk. Der Engel der Apokalypse, die Vögel im Baum des Lebens, eine Ahnung vom ewigen Licht, all das erfüllt dieses Lebenskonzentrat des 1992 verstorbenen, mystisch-katholischen Komponisten. Die Musikerinnen und Musiker im gigantisch besetzten Orchester müssen dabei die Spannung halten wie Bogenschützen. Es wäre leicht, ein bisschen Weihrauch über dem Podium zu schwenken, um die herben Gegensätze zu mildern und leichten Trost zu spenden. Doch Rattle liegt an diesem Abend nichts ferner. Er weiß, dass das Publikum gekommen ist, um ihm zu zuhören, und nutzt diesen Vorschuss für maximale Klarheit. Das London Symphony Orchestra klingt unter seiner Leitung nicht wie ein Abglanz der Philharmoniker, es spielt sehniger, silbriger und weit entfernt vom Überdruck, der auf Rattles Berliner Interpretationen mitunter lastete. Ein großer Dirigent erfindet sich noch einmal neu.

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