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Literaturzeitschriften: Das letzte Fähnlein der Avantgarde

Die Grazer "Perspektive" veröffentlicht ihre 100. Ausgabe. Die Zeitschriftenkolumne.

Von Gregor Dotzauer

Keine Frage: „Wozu noch Literatur?“ ist „eine scheiß frage“. Da kann man wie die Grazer Textarbeiterin Silvia Stecher im interpunktionslosen Kleinschreibungsparlando gleich noch weiterstänkern: „wer hat sich die ausgedacht das war sicher wieder so eine b’soffene gschicht umzingelt von jubel rubel frage stellungen auf den optimistischen märkten wie es mit der literatur weitergeht oder was kann literatur muss man ja saufen oder wenigstens die blödeste gegen frage stellen eine instrumentelle zumutung“. Um dann kleinlaut zu gestehen: „obwohl sie so blöd vielleicht nicht ist“.

Man kann seine Zeit schließlich auch anders verbringen als mit der Lektüre einer selbst als Literatur auftretenden, im Dreierkollektiv verfassten Selbstzerfleischung, wie sie das Jubiläumsheft der „Perspektive“ (100/101, 142 S., 10 €, www.perspektive.at) in lindwurmartigen Textblöcken auf über 60 Seiten betreibt.

Silvia Stecher und ihre Mitherausgeber, Nora Tunkel in Wien und Ralf B. Korte in Berlin, haben ohnehin kein Interesse an unmissverständlichen Antworten. Aber auch für ihre mehr oder weniger ironischen Selbstbezüglichkeiten gilt das schöne englische Sprichwort „The proof is in the pudding“. Und den muss man hier erst einmal an die Wand nageln.

Auslöschen oder verbessern

Die „Perspektive“ legt, wie es auf der Website heißt, „wert auf gesellschaftskritisches formbewusstsein in literarischen und essayistischen texten“. Sie bildet das letzte Fähnlein einer antibürgerlichen Avantgarde, deren Begriff Ralf B. Korte und die damaligen Herausgeber schon 1999 in einem Symposion vor die Alternative „auslöschen oder verbessern“ stellten.

Nachdem Ersteres nicht gelingen wollte, sind sie mit Letzterem noch immer beschäftigt. Und so wird im Mammuteditorial des silbern spiegelnden Jubiläumshefts weiter mit den entsprechenden Theoriewerkzeugen hantiert, darunter den Schriften des 2017 verstorbenen Literaturwissenschaftlers Peter Bürger.

Seine 1974 erstmals erschienene „Theorie der Avantgarde“ gehört nach wie vor zu den Schlüsseltexten jeder Diskussion über einen Begriff, der nicht zuletzt damit zu kämpfen hat, dass er sich an einen fragwürdig gewordenen Fortschritt knüpft. Bürger selbst wusste genau, dass sie sie sich in eine Vielzahl zusehends beliebiger Avantgarden aufgelöst hatte und verlieh 2014 in „Nach der Avantgarde“ seiner Sehnsucht Ausdruck, gegen alle rhetorisch aufgeschäumten Programme „nichts Geringeres als eine notwendige Kunst“ zu schaffen.

Wie sehr die teils namhaften Autoren und Autorinnen der „Perspektive“ dafür einstehen, kann jeder selber beurteilen: Alle zwischen 1998 und 2016 im Halbjahresturnus erschienenen Hefte lassen sich gratis herunterladen. Über den geistigen Dunstkreis gibt im aktuellen Heft auch Clemens Schittkos „Literarischer Untergrund nach Google“ Auskunft: eine imaginäre Google-Score-Liste, angeführt von Helmut Höge und Thomas Kapielski, mit Edgar Leidel als Schlusslicht: Sie stimmt hinten und vorne nicht – soviel Aufstand gegen das Berechenbare muss sein.

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