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Autor Ian McEwan

© Ivana de Maria

Literaturfestival in Ascona: Liebe am Lago Maggiore

Dichten und Lesen im Tessin: Ian McEwan ist einer der Gäste der vierten Ausgabe des Literaturfestivals Eventi Letterari Monte Verità.

Mark Twain zufolge haben Nackte nur wenig oder gar keinen Einfluss auf die Gesellschaft. Obwohl das Literaturfestival Eventi Letterari Monte Verità, das dieses Jahr unter dem Motto „Utopia e Amore“ stand, erstmals von März auf April verlegt wurde, verhinderte der Dauerregen eine Überprüfung von Twains Behauptung. Fast so rosa wie die frisch erblühten Magnolien leuchtet die Villa Semiramis durch die ausgedehnte Parkanlage des „Bergs der Wahrheit“. Dessen Manager und Lordsiegel-Bewahrer aller Geheimnisse der wechselnden Formationen der Lebensreformer, die nach Ascona kamen, ist Lorenzo Sonognini. Im Jahre 1909, erzählt er, habe die Besitzerin des Hotels Semiramis Billets an Schaulustige verkauft, die vom Dach aus die Nudisten beobachten wollten. „Abbasso il turismo intellettuale!“, „Nieder mit dem Intellektuellen-Tourismus!“, fordert der achtzigjährige Fluxus-Veteran Ben Gautier in runder weißer Schrift auf Schiefertafeln im sogenannten Russenhaus. Der kleine Holzpavillon bildet einen Ableger der Jubiläums-Ausstellung „Marcel Duchamp. Dada und Neo- Dada“, die in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Museum Schwerin entstand und bis Ende Juni im Museo Communale d’Arte Moderna in Ascona zu sehen ist.

Auch bei der vierten Ausgabe der Eventi Letterari (www.eventiletterari.ch) unter Präsident Eros Bergonzoli bestand Joachim Sartorius als Künstlerischer Leiter auf dem Begriff „Utopie“ im Titel: „Das Konzept der freien Liebe spielte hier vor hundert Jahren eine riesige Rolle und wurde heftig diskutiert. Und natürlich habe ich gehofft, sage ich jetzt errötend, dass man mit so einem Konzept noch mal sehr viel mehr Publikum anlocken kann.“ Rund 16 000 waren es. Erstmals zog das Tessiner Festival vom immer noch etwas elitären Berg, dessen magnetische Strahlung verbürgt ist, mit einem Teil der Lesungen hinunter in ein Zelt am Lido. Die Planen reflektierten den sanften Wellengang des Sees, als Stargast Ian McEwan über den Schiffbruch sprach, den Utopien und Liebesentwürfe so leicht erleiden können – vor allem die großen. „Plato hätte sich sicher kein Literaturfestival in Ascona gewünscht“, spottete er mit britischer Coolness über den Verfasser der „Politeia“.

McEwan eröffnet mit Hamlet und Dichterin Patrizia Valduga mimt weibliche Hilfslosigkeit

McEwan, der zuletzt mit „Kindeswohl“ ein flammendes Plädoyer gegen eine lebensfeindliche Ideologie (der Zeugen Jehovas) veröffentlichte, wandte sich gegen jede Form von Utopie, die über die persönliche hinausgeht, vor allem gegen die eines Lebens nach dem Tode. Ein „Hamlet“-Zitat eröffnet seinen neuen Roman „Nutshell“, der im Uterus der Mutter des Erzähler-Ichs einsetzt und einen kulturpessimistischen Furor sondergleichen verspricht. McEwan las exklusiv das erste Kapitel daraus, verbat sich aber jedes Zitat bis zum Erscheinen des Buches auf Englisch im Herbst.

Nicht minder elektrisierende Entdeckungen ließen sich bei den romanischen Autoren machen, angefangen mit dem rumänischen Homme de Lettres Varujan Vosganian, der eine wahre Episode aus seinem Armenien-Epos „Das Buch des Flüsterns“ vortrug. „Um Himmels willen, was soll ich mit diesen Hörnern machen?“, fragte die Mailänder Dichterin Patrizia Valduga in gespielter weiblicher Hilflosigkeit ihren Moderator, als sie mit schwarzem Riesenhut und im Minirock vor zwei Mikrophonen stand. Valduga gilt seit ihrem Debüt „Medicamenta“ von 1982 in ihrem Heimatland als Meisterin der Metrik, strenge Reimformen begreift sie als Gefängnis, das ihr größtmögliche dichterische Freiheit ermöglicht. Ihre Liebeslyrik, unter anderem von Christoph Wilhelm Aigner ins Deutsche übersetzt, trug sie mit einem für nüchterne deutsche Ohren ungewohnten Tremolo vor, das Tränen, wenn nicht gar Ohnmachtsanfälle befürchten ließ.

Stefan George, der in Minusio unweit von Ascona beerdigt ist, hätte diese Selbstinszenierung einer modernen Sappho gefallen. Ganz anders dagegen der nüchterne Ton von Michela Murgia, hierzulande durch ihren Roman „Accabadora“ bekannt geworden: In der Mundart ihrer Heimatinsel Sardinien gebe es kein Wort für Liebe als Abstraktum. Zu reinem Keuchen, mehr aus Anstrengung denn aus Lust, gerann das vielbedichtete Gefühl in der Performance „Les petites morts“ von Angela Schubot und Jared Gradinger. Entsprechend der bedeutenden Tanz-Tradition des Monte Verità hatte Joachim Sartorius das Berliner Duo in das Bauhaus- Kleinod Teatro San Materno eingeladen.

Gepflegte deutschschweizerische Langeweile entfaltete sich bei einer Diskussion über die Selbstliebe mit Sibylle Berg und Peter von Matt. „Ich habe mich für mich selbst immer am wenigsten interessiert“, sagt die Wahl-Zürcherin Berg. Immerhin konnte man sich auf die „Autoerotik des gelingenden Satzes“ beim Schreiben einigen. Das allerschönste, ja ergreifende Beispiel für gelungene Sätze lieferte des Nachts auf dem nebelverhangenen Monte Verità Lukas Bärfuss, demzufolge das männliche Geschlecht im Berner Oberland „Familienglück“ genannt wird. Seinen Vortrag „Liebe als Tonikum und als Gift“ hatte Bärfuss wie ein Triptychon aufgebaut, in die Zustände davor, während und danach, wie sie ja auch der Liebe zu eigen sind.

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