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Zu Gast in Ascona. David Grossman.

© picture alliance / dpa

Literaturfestival in Ascona: Ein Stern namens Bruno

„Auf den Schultern von Riesen“: David Grossmann und andere Schriftsteller sprechen beim Literaturfestival auf dem Monte Verità über ihre Vorbilder.

Gerührt schaut David Grossman zu, wie Tessiner Grundschulkinder einige Szenen aufführen, die sie frei nach seinen Jugendbüchern gestaltet haben. Sie sind damit auf die Schultern eines literarischen Riesen geklettert und haben das Motto der diesjährigen Eventi Letterari auf dem Monte Verità von Ascona umgesetzt. Die Sentenz des mittelalterlichen Theologen Bernard de Chartres – „Wir sind gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen“ – markierte für das 2013 gegründete Festival eine stärkere philologische Akzentuierung als bisher und die deutlichere Hinwendung zum italienischsprachigen Publikum.

Für den neuen Ansatz steht der Mailänder Literaturwissenschaftler Paolo Di Stefano, den sein Vorgänger Joachim Sartorius und Karin Graf weiterhin künstlerisch beraten. Nach sechs Jahren, in denen es unter anderem um „Utopien und herrliche Obsessionen“ mit Hans Magnus Enzensberger und Christian Kracht oder „Utopie und Liebe“ auf dem einst legendären Hügel der Nackttänze ging, sollten nun die eingeladenen Autorinnen und Autoren wie Melinda Nadj Abonji, der belgische Shooting-Star Adeline Dieudonné oder der stets auch politische Horizonte eröffnende Adolf Muschg ihre persönlichen „Riesen“ vorstellen.

Poetologie für Digital Natives

Während die mehrfache Buchpreisträgerin Nadj Abonji die Neuseeländerin Janet Frame als eine Kollegin lobte, die das Verhältnis zwischen Literatur und sogenannter Wirklichkeit radikal hinterfrage, berief sich Dieudonné mit ihrem blutrünstigen Familienroman „La Vraie Vie“ (Das wahre Leben) rund um einen Großwildjäger nicht allzu überzeugend auf eine Mesalliance zwischen Stephen King und Marie Curie.

Adolf Muschg bewältigte dagegen schwungvoll eine große Spannweite der Vorbilder zwischen dem antiken Komödiendichter Aristophanes und dessen segensreichem Wirken für die Demokratie und Carl Spitteler, der 1919 als bislang einziger Schweizer den Literatur-Nobelpreis erhielt. Literarisch sei Spittler mausetot, so Muschg. Er lobte seinen Landsmann aber für dessen Rede von 1914, in der er sich für die Neutralität der Schweiz aussprach: „Darin finde ich etwas, das ich in seiner Literatur nicht finde: Bescheidenheit, ich möchte fast sagen, eine Demut in Bezug auf die eigene Reichweite, auf die mögliche Hybris des Menschen.“

Nur der Star-Autor und Leiter der Turiner Schreibakademie Scuola Holden, Alessandro Baricco, blickte ausschließlich in die Zukunft. Mit „The Game. Topographie unserer digitalen Welt“ entwirft er eine Art Poetologie für Digital Natives, die nicht länger als vierzig Minuten stillsitzen könnten. Der kühne Essay interpretiert die „demokratische“ Digitalisierung aller Lebensbereiche als Flucht vor den Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts, die undurchsichtige Machtzirkel ausgeheckt hätten. Bariccos Buch soll noch in diesem Jahr auf Deutsch erscheinen.

Aufbruchsgeist ist geblieben

„Wahrheit und Freiheit in Denken und Handeln“ wünschte sich Ida Hofmann-Oedenkoven im Jahr 1906 für die Angehörigen der von ihr mitbegründeten Reform-Kolonie auf dem Monte Verità. Als der Wuppertaler Baron Eduard von der Heydt Ende der zwanziger Jahre dort ein großzügiges Hotel mit klaren Bauhaus-Linien errichten ließ, waren die idealistischen Pioniere, Vegetarier und Anthroposophen längst weitergezogen.

Etwas ist dennoch von diesem Aufbruchsgeist geblieben, das lässt sich bei den Eventi Letterari, zu denen auch der literarische Nachwuchs-Zirkel Cenacolo gehört, in jedem Frühjahr erleben. Hoffnung für die italienische Verlagslandschaft verheißt seit 2013 die von Elisabetta Sgarbi gesteuerte Mailänder Edition „La nave die Teseo“ (Das Schiff des Theseus), zu deren Gründungsmitgliedern Umberto Eco gehörte.

Die gelernte Pharmazeutin Sgarbi leitete die Presseabteilung des Verlags Bompiani. Als dieser an den Branchenriesen Mondadori verkauft wurde, wagte sie den Sprung in die Selbstständigkeit. Dafür erhielten sie und ihr Team den diesjährigen Enrico-Filippini-Preis, der Initiativen und Menschen gewidmet ist, „die sich in der Welt der Bücher durch Mut und Kreativität auszeichnen“. Nicht nur das italienischsprachige Publikum genoss bei der Eröffnung mit David Grossman die Lesung von Laura Morante, Nichte der großen Elsa und selbst Schauspielerin und literarische Debütantin. Laura Morante las aus der Erzählung „Die Vögel“ von Bruno Schulz, dem 1942 ermordeten jüdisch-polnischen Schriftsteller.

Sich anderen Sichtweisen öffnen

Mitreißend sprach David Grossman über diesen seinen Fixstern: „Das Leben in all seiner Intensität zu leben, in all seinen Facetten, in jedem Moment, auch in diesem, in dem es Millionen von Ereignissen und Nuancen gibt, die wir wahrnehmen oder ignorieren können, das ist das, was Bruno mir beigebracht hat. Ich nenne ihn Bruno, denn wir sind ja schon eine Zeitlang befreundet.“

Grossman appellierte leidenschaftlich, sich anderen Sichtweisen zu öffnen: „Wenn ich politische Essays schreibe, vergesse ich nie, dass ich, wenn ich fünfhundert Meter südlich zur Welt gekommen wäre, Palästinenser sein könnte und die Wirklichkeit wohl ganz anders betrachten würde. Dieser Perspektivwechsel intensiviert meinen Kontakt zur Wirklichkeit.“ Als schönste Auszeichnung betrachtet er es, dass ein mitteleuropäischer Golden Retriever den Namen Dinka trägt, wie ihm Freunde nach einer Reise in die Slowakei erzählten. Dinka, benannt nach der Hündin in seinem Jerusalem-Roman „Wohin du mich führst“.

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