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Die in London lebende Autorin Elif Shafak.

© AFP

Literaturfestival Berlin: Mensch und Recht

Über die Verdunklung mitten in Europa. Das Internationale Literaturfestival Berlin beginnt politisch mit der Eröffnungsrede von Elif Shafak.

Von Gregor Dotzauer

Gleich zweimal wurde der Geist von Antonio Gramsci beschworen, und zwar ausgerechnet mit einer fast zu Tode zitierten Maxime, die gar nicht von ihm stammt. Der Pessimismus des Verstandes und der Optimismus des Willens, den sowohl Gabriele von Arnim in ihrer Vorstellung von Elif Shafak, der Eröffnungsrednerin des Internationalen Literaturfestivals Berlin wie die türkische Schriftstellerin selbst beschworen, begleitete den marxistischen Philosophen von einem Artikel in der von ihm mitbegründeten Wochenzeitung „L’Ordine Nuovo“ im April 1920 bis zu seinem frühen Tod 1937. In Variationen geistert sie, autobiografisch gefärbt, vor allem aber geschichtsphilosophisch ausbuchstabiert, durch seine lanagjährigen „Gefängnisbriefe“. Unter Mussolinis faschistischer Regierung war Gramsci 1926 unter anderem wegen angeblicher Anstiftung zum Bürgerkrieg zu 20 Jahren Haft verurteilt worden.

In Wahrheit stammt die Maxime, woraus Gramsci nie ein Hehl machte, von dem französischen Literaturnobelpreisträger Romain Rolland, der zu den Autoren von „L’Ordine Nuovo“ gehörte und sich später für Gramscis Freilassung engagierte. Sie wird meist mit „Il faut allier le pessimisme de l’intelligence à l’optimisme de la volonté“ angegeben, lässt sich indes bei Rolland nicht nachweisen. Aber wie es mit geflügelten Worten apokryphen Ursprungs so ist: Sie nehmen irgendwann ein eigenes Leben an, und wenn sie darüber hinaus die Neigung haben, eine triviale Schlagseite zu bekommen, macht genau das ihre Mobilisierungsfähigkeit aus: Leute, steht auf aus eurer Bitternis, so lange euch die Beine tragen!

Elif Shafak kam in Straßburg zur Welt und lebt in London

Auf die Türkei bezogen, von der Elif Shafak sagt, sie sei zum größten Journalistengefängnis der Welt geworden und übertreffe darin noch China, verleiht Gramsci der Lage doch eine eigentümlich revolutionäre Farbe. Das ausgleichende Zitat stammte von Arthur Koestler, einem der klügsten kommunistischen Renegaten. Er behauptete, dass nicht nur Macht korrumpiere, sondern auch Verfolgung die Opfer, wenngleich auf subtilere und tragischere Weise. Shafak, 1971 als Tochter einer Diplomatin und eines Soziologieprofessors in Straßburg geboren, hat das Glück, den Nachstellungen des Erdoğan-Regimes nicht mehr unmittelbar ausgesetzt zu sein. Die selbsterklärte Nomadin, die zwischen Istanbul, Amman und Boston aufwuchs, lebt seit acht Jahren in London und beteiligt sich, nachdem sie in ihrer Heimat im Zusammenhang mit dem Genozid an den Armeniern schon wegen Verunglimpfung des Türkentums angeklagt war, von dort aus an den heimischen Debatten.

Warnung vor einem Verlust der Gewaltenteilung

Ihre Rede im Haus der Berliner Festspiele zählt sämtliche Sorgen der zeitgenössischen Demokratien auf: die Verdunklung mitten in Europa, die Gefahren der Selbstzensur, die Warnung vor einem Verlust der Gewaltenteilung, den Wunsch, Bürgerbeteiligung über das Wahlkreuz hinaus zu schaffen – und die Notwendigkeit, Regierung und Bevölkerung nicht zu verwechseln. In weiten Teilen übernahm Shafak, was sie schon im Mai auf dem Oslo Freedom Forum über „Turkey and the Loss of Democracy“ vorgetragen hatte. Die Lebendigkeit, mit der diese Königin der freien, spontan anmutenden und doch bis ins Letzte vorbereiteten Rede aus ihrem Baukastensystem schöpfte, hatte dennoch etwas Ermutigendes. Gerade Selbstverständlichkeiten oder solche, die man gerne dafür halten würde, dürfen rituell, ja zeremoniell wiederholt werden.

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Dazu gehört womöglich auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wie sie die UN 1948 verabschiedete. Auf eine Idee von Festivalchef Ulrich Schreiber hin bat Norbert Kron 30 Prominente vor die Kamera, um sie in ihrer Sprache jeweils einen Artikel lesen zu lassen. „What Matters“, am Abend erstmals gezeigt und nun auch auf YouTube zu sehen, präsentiert unter anderem David Grossman auf Hebräisch, Herta Müller auf Deutsch, Patti Smith auf Englisch, Petina Gappah auf Schona und Ai Weiwei auf Mandarin.

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