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Zweiter Weltkrieg: Die Täter befreit, die Opfer eingesperrt

Ein kolossales Buch: Norman Davies über das große Missverständnis über Hitler, Krieg und Osteuropa.

Nun mal ehrlich: Brauchen wir nach 60 Jahren Kriegsende und gefühlten 60 Millionen Buchseiten zu dem Thema einen weiteren Wälzer zum Zweiten Weltkrieg? Wer sich Zeit für dieses Buch von Norman Davies genommen hat, der muss diese Frage ganz zwingend mit Ja beantworten.

Der Mann ist in Deutschland kein Unbekannter: Seit seiner populären Geschichte Polens „Im Herzen Europas“ aus dem Jahre 1999 ist der walisische Historiker hierzulande breiteren Leserkreisen vertraut. Das Gleiche gilt für seine Bücher zum Warschauer Aufstand und zur Geschichte Breslaus. Seit Jahrzehnten mit Osteuropa, insbesondere Polen vertraut, ist es sein Anliegen, den vorherrschend westeuropäisch geprägten historiografischen Blick auf die Gesamtheit des Kontinents auszuweiten. Das führt zu einer für den deutschen Leser radikalen Neubewertung der Wirkung des Krieges: Das Mantra der „Befreiung“ stimmt eben nur für eine Hälfte Europas. Die andere verlor ihre Freiheit gleich doppelt: Zuerst gegen Hitler, später gegen Stalin.

Davies geht es nicht um spektakuläre neue Fakten. Sein Interesse gilt den Mythenbildungen, Auslassungen und Überblendungen aller Beteiligten, die die realistische Einordnung der „großen Katastrophe“ in die Gesamtgeschichte des Jahrhunderts erschweren. Das beginnt beim zeitlichen Bezugsrahmen. In einer jahrzehntelangen Erinnerungstradition setzte der „eigentliche“ Weltkrieg mit dem Überfall Deutschlands auf die UdSSR im Juni 1941 ein. Das Jahr 1939 und alle folgenden Kampfhandlungen galten als eine Art Präludium. Davies arbeitet den japanischen Überfall auf Pearl Harbor vom Dezember 1941, Hitlers Kriegserklärung an die USA im gleichen Monat und den Beginn des Holocaust als weitere Daten heraus, die für eine solche amerikanische wie sowjetische Fixierung auf dieses Jahr standen.

Rückt das Jahr 1939 als tatsächlicher Kriegsbeginn in den Blick, wird bis heute halbierend vom „deutschen Überfall“ auf Polen gesprochen und die Tatsache der gemeinsamen, knapp zeitversetzten deutsch-sowjetischen Aggression ausgeblendet. Der Hitler-Stalin-Pakt wird dann entweder als „Schutzreaktion“ der sowjetischen Seite akzeptiert oder als „vorübergehende Vereinbarung“ für angestrebte territorialen Zugewinne verkürzt. Nur im osteuropäischen Bewusstsein ist präsent, dass es hier um das Zusammenwirken zweier totalitärer Systeme ging, die gemeinsam den Fall der europäischen Zwischenkriegsordnung betrieben und alle besetzten Gebiete mit unmenschlichem Terror überzogen. Während sich die westlichen Verbündeten Polens im monatelangen „Sitzkrieg“ übten, schuf Stalin mit Rückendeckung Hitlers weitere vollendete Tatsachen. Der Überfall auf Finnland im Dezember 1941 und die Annexion der baltischen Staaten waren die nächsten Stationen. Dem Beispiel Hitlers gegen Polen folgend, wurden unannehmbare Zugeständnisse eingefordert, fünfte Kolonnen aufgebaut, mit dem eigenen Schutz und dem Schutz der Nachbarn argumentiert. Der aufgezwungene sowjetische „Schutz“ sollte die baltischen Staaten nicht nur ihre Souveränität, sondern bis zu einem Viertel ihrer Bevölkerung kosten.

Davies analysiert auch die Ursachen für Blindheit, Illusionen und eigensüchtige Interessenpolitik der Westmächte und der USA. Vor dem Expansionswillen und vor allem der Expansionskraft Deutschlands in die Knie zu gehen war das eine. Hitler wurde zu lange für einen irrlichternden Aufschneider gehalten, der mit Zugeständnissen zu beruhigen sei und sich im Osten austoben sollte. „Sterben für Danzig“? lautete die Frage eines Abgeordneten der französischen Nationalversammlung. Schwerer wogen die völlige Unkenntnis Osteuropas und Illusionen über die reale Natur des Sowjetkommunismus. Angesichts der eigenen Krisen und Depressionsjahre konnten in Frankreich, England und weiteren Staaten linke Kräfte an Boden gewinnen. Unter dem Banner des Antifaschismus formierten sich prokommunistische Kräfte. Norman Davies stellt Nationalsozialismus, Kommunismus und Liberalismus geistig-ideologisch gegeneinander, tappt dabei nicht in die Falle des deutschen Historikerstreites, Nationalsozialismus und internationalen Faschismus als bloße Reaktion auf die Bedrohung durch den Bolschewismus zu interpretieren.

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 verdeckt der Mythos des Großen Vaterländischen Krieges, der Verteidigung der russischen Erde, dass es polnische, belarussische und ukrainische Territorien waren, in denen die Okkupanten am schlimmsten wüteten. Trotz des wachsenden Umfanges amerikanischer Hilfsleistungen ab 1942 war es die Mobilisierungsfähigkeit, waren es die rücksichtslos in den Kampf geworfenen Menschenreserven der sowjetischen Seite, die den Krieg im Osten entschieden. Die Schlacht vor Moskau zerstörte die Blitzkriegsträume, Stalingrad und die Schlacht im Kursker Bogen im Sommer 1943 zwangen Hitler zum stetigen Rückzug und ließen das Pendel der Kampfhandlungen umschwingen.

Spätestens jetzt lag die Gestaltung der Nachkriegsordnung auf dem Verhandlungstisch der Alliierten – und hier versagte die westliche Seite in Bezug auf Ostmitteleuropa komplett. Davies macht dies am Beispiel der polnischen Frage deutlich. Die britische und noch mehr die US-Seite ignorierten den mit dem Namen Katyn verbundenen Massenmord der Sowjets an über 20 000 polnischen Offizieren und ließen die polnischen Exilkräfte als ihre Verbündeten wieder und wieder im Stich. Das in der Atlantik-Charta festgehaltene Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde der gemeinsamen Festlegung von „Einflusszonen“ geopfert. Die Konferenzen von Teheran, Jalta und schließlich Potsdam markierten Stationen eines Rückzuges gegenüber dem gerissensten und skrupellosesten Spieler am Tisch. Was Stalin unter dem Begriff „Einflusszonen“ verstand und wie er sein Versprechen auf Bildung von Koalitionsregierungen und freie Wahlen in den von der Roten Armee besetzten Staaten einhielt, zeigte die lange Nachkriegszeit.

Norman Davies Kernthese ist deshalb ganz einfach: So wie der Zweite Weltkrieg aus den offenen Fragen des Ersten erwuchs, so spiegelte der Kalte Krieg direkt die unversöhnliche Natur der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges wider und war insofern unvermeidlich. Freiheit, Demokratie und Schutz durch die US-Seite als Grundlage der erfolgreichen Nachkriegsentwicklung Westeuropas blieben dem östlichen Teil des Kontinentes für Jahrzehnte verschlossen. Für die im Ostblock eingesperrten Völker endete der Weltkrieg daher erst 1989.

– Norman Davies: Die große Katastrophe. Europa im Krieg 1939–1945. Droemer/Knaur Verlag, München 2009. 848 Seiten, 36 Euro.

Wolfgang Templin

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