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Willy Brandt: Gespür für den Moment

1984 nannte Willy Brandt die Wiedervereinigung eine "Lebenslüge" – 1989 brachte er seine Partei auf Einheitskurs

Kann man die 80er Jahre vergegenwärtigen ohne den Blick auf die große Wende von 1989/90? Man muss, selbstverständlich, denn niemand in diesem Jahrzehnt konnte redlicherweise damit rechnen, dass es so enden würde; auch jene, die nachher klüger sein wollten, haben es in Wahrheit nicht getan. Andererseits kann man an dem Ausgang dieses Dezenniums nicht vorbei: er steht für den Betrachter zwangsläufig im Schatten des Ereignisses, das dessen Problemlagen so überraschend und grundstürzend veränderte, dass danach tatsächlich nichts mehr so war wie vorher. Man kann jedenfalls den Blick nicht auf die 80er Jahre richten, ohne zumindest im Hinterkopf zu erwägen, inwiefern die Politik in ihrem aktuellen Drängen und Treiben sich – frei nach Goethes Faust – des rechten Weges bewusst war.

Willy Brandt war für diese Zeitspanne eine Gestalt von eminenter Zeugenhaftigkeit. Immer auf der Suche nach den Falllinien der politischen Entwicklung – gerade weil er kein staatliches Amt mehr hatte –, hat er ihre Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ausgeschritten. Die 80er Jahre: das sind die Jahre des „Raketenschachs“ (Strobe Talbott), der Friedensbewegung und der Dissidenten im Ostblock, von Gorbatschow und Reagan, und dann, in ihrer zweiten Hälfte, des prekären Zwiespalts von stabilem Status quo und beginnenden Veränderungen. Der zehnte Band von Brandts Reden und Interviews, der bis in die ersten Jahre der Wiedervereinigung reicht, wird deshalb zur spannenden Lektion eben vergangener Zeitgeschichte.

Am Anfang steht der Versuch, sich von der ideologischen Verklammerung der Ost-West-Spannung frei zu machen. Unter dem Druck des Aufeinanderprallens der Raketenrüstung, nicht mehr gebunden durch die 1982 zu Ende gegangene SPD-Regierung Helmut Schmidts, setzt Brandt auf gewagte Konstrukte – eine gemeinsame Sicherheitspolitik, die „Europäisierung Europas“ (Peter Bender), durchaus eine „Nebenaußenpolitik“. Allerdings hält er am atlantischen Bündnis und der Nato-Mitgliedschaft fest, gegen Lafontaine e tutti quanti. Gleichwohl gerät er dabei in unsicheres Terrain. Das belegen der Polen-Besuch 1985 ohne Kontakt mit Lech Walesa, die DDR-Reise im gleichen Jahr, bei der er zwar mit Kirchenleuten zusammentrifft, aber der Einladung von Rainer Eppelmann nicht folgt, auch die Formel von der „Lebenslüge“ der Wiedervereinigung 1984.

Aber die Rede in den Münchner Kammerspielen, die der Band dokumentiert, zeigt Brandt ansonsten durchaus auf der Höhe der Situation. Hier sucht einer tatsächlich die „Chancen der Geschichte“, wie ihr Titel hieß. Die Rede ist ein Abschied vom Gestern der Nachkriegsgeschichte, ein Plädoyer für die Ankoppelung deutsch-deutscher Politik an die europäische Entspannung, schließlich das Bekenntnis zu einem „vernünftigen, gezähmten deutschen Patriotismus“, der in „der Teilung das Gemeinsame erhält, das unser Erbe ist“. Kein Sich-Herausstehlen aus den Paktsystemem qua Neutralisierung, ehestens, vielleicht, ein bisschen zu viel Entsagung gegenüber dem Gedanken der offenen deutschen Frage – übrigens, um das in Erinnerung zu bringen, zuvörderst zur Beruhigung der europäischen Nachbarn.

Um so eindrucksvoller die wache Anteilnahme, mit der Brandt 1989 die Spur des Wandels aufnimmt. Schon im Mai, noch deutlicher im Sommer, dann im September zeigt er sozusagen Witterung. Am 29. November – einen Tag, nachdem Kohl seinen Zehn-Punkte-Plan vorgetragen hat –, findet er vor der SPD-Fraktion die dramatische Formulierung, dass die Fürsprecher der Zweistaatlichkeit „weggeschwemmt werden“ von der „Einheit von unten“, die die Menschen zu Hunderttausenden erlebten. Höhepunkt ist die Rede in Rostock am 6. Dezember: ein bedeutendes Dokument der Herbstrevolution. Es hat seine parteipolitische Entsprechung in der Parteitagsrede im Dezember, mit der er versucht, seine der Entwicklung in breiten Teilen widerstrebenden Partei auf den Kurs der Einheit zu bringen.

Der wie die gesamte „Berliner Ausgabe“ sorgsam bis akribisch – von Uwe Mai, Bernd Rother und Wolfgang Schmidt – bearbeitete Band enthält nicht die Rede im Hofgarten 1983, die in einem früheren Band platziert ist, und auch nicht seinen Beitrag zur Hauptstadtdebatte 1991 – beide hätte man sich auch hier denken können. Dafür dokumentiert er die Zurückhaltung des alten Staatsmannes, dem schwant, dass 1989 weniger eine neue Weltordnung als eine „neue Weltunordnung“ beginnt. Aber auf die Frage, ob er, der Gott für den 9. November 1989 dankte, glaube, dass der gewollt habe, was geschah, antwortet der Agnostiker Brandt: „Ganz gleich, welchen Namen man Ihm gibt: Ja. Er wollte es.“

– Willy Brandt:

Gemeinsame Sicherheit. Internationale

Beziehungen und

deutsche Frage 1982–1992. Berliner Ausgabe, Band 10. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2009. 736 Seiten, 27,60 Euro.

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