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Von Gastarbeiterkind mit Sehschwäche zur gefragten Autorin und Kolumnistin: Mely Kiyak (Archivbild von 2017).

© picture alliance / Gregor Fischer

Vom halbblinden Gastarbeiterkind zur Autorin: Mely Kiyaks mitreißende Reise durch ihr Leben

"Frausein" heißt Mely Kiyaks neues Buch. Ein irreführender Titel, denn statt feministischer Programmatik enthält es private Selbstfindungsbekenntnisse - mit Nebenwirkungen.

Dass dieses „Es besser haben sollen als die Eltern“, dieses Aufsteigenmüssen auch eine Last ist. Dass es Unsicherheit mit sich bringt, Heimatlosigkeit, dass es auch Weggeschobenwerden bedeutet. Dass Aufstieg nicht immer Selbstverwirklichung bedeutet, sondern ein „Raus hier“ ist, damit Eltern ihre Plackerei belohnt sehen. War das immer allen so klar?

Mely Kiyak öffnet dafür in ihrem neuen Buch „Frausein“ wie im Vorübergehen die Augen – und für vieles andere mehr. Für das Innenleben von Einwandererfamilien. Für die Sprachlosigkeit der Alten. Für die Unverschämtheit mancher Herkunftsdebatte. Für die Strapazen des Erwachsenwerdens. Und auch für die Selbstentdeckung und -positionierung als Frau.

Dass das „Frausein“ aber zum Titel wurde, ist dennoch so irreführend wie einst Peter Handkes elfmeterängstlicher Tormann. Frausein klingt nach programmatischem Diskurs, und um nichts weniger geht es in diesem Buch. Es schildert eine Lebensgeschichte, sehr privat, wunderbar leicht im Ton und auch sehr lustig.

Mely Kiyak ist Publizistin und Autorin und vielen, die Zeitungen lesen, als Kolumnistin bekannt, die streng bis erbarmungslos über aktuelles Politikgeschehen urteilt. Die Mely Kiyak in „Frausein“ tritt ganz anders auf. Eigentlich tritt sie gar nicht auf, das wäre viel zu energisch und selbstgewiss. Ihr geschieht mehr, als dass sie handelt, weil sie lange Zeit gar nicht recht weiß, wer sie ist und sein will, und was sie ausmacht.

Mely Kiyak kommt 1976 in Sulingen als Kind kurdischer Gastarbeiter zur Welt. Sie hört schlecht und sieht nicht gut. Am liebsten sitzt sie am Schreibtisch und liest oder schreibt, während Vater und Mutter als Arbeiter und Putzfrau Geld verdienen. Oder sie albert mit ihrer Lieblingscousine herum. Stellt sich mit ihr das Deutsche vor. Den Akademiker Konstantin etwa mit seiner Kanzlei, um den man sich immer sorgen muss. Sie erzählen sich sein Leben, und wer zuerst lacht, hat verloren.

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Dann die Ferien in der Türkei, die Großeltern, die Tanten, Onkel, die dort in Armut leben. Die Verkupplungsversuche, das Blättern in der gefundenen „Brigitte“, das Älterwerden, die körperlichen Veränderungen. Immer wieder dazwischen die schlechte Sehfähigkeit. Mely Kiyak hat viele Unfälle, aber niemand kommt drauf, dass es an den Augen liegen könnte. Sie gilt als Träumerin.

Aber dann ist sie doch mit deutlicher Rigorosität in der Lage, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Bringt den Mut auf, sich allein aufzumachen ins Fremde, erst an die Universität, und als die Verlorenheit dort zu groß wird, der Wechsel nach Leipzig ans Deutsche Literaturinstitut.

Die Eltern bleiben zurück, plötzlich verlassen und unglücklich. Kontakt suchend. Was die Tochter abwehrt. Sie weiß, dass sie allein mit sich am glücklichsten sein kann. Für den Vater tut einem das mehr leid als für die Mutter, ihm ist man sehr nah gekommen in dem Buch. Ein wunderbarer Vater. Mely Kiyak schreibt: „Keine Sekunde meines Lebens zweifelte ich an der Liebe meines Vaters zu mir. Ich musste für diese Liebe nichts tun. Ich musste nichts beweisen.“ Sollte aus dieser bedingungslosen Liebe die Kraft zum Alleinsein entstanden sein?

Mely Kiyak vollbringt mit ihrem schnell gelesenen Buch das Kunststück, einem so viel zum Nachdenken mitzugeben, dass man kaum glauben will, dass man nur einen langen Abend mit der Lektüre verbracht hat.

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