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Uwe Tellerkamps Epochenroman "Der Turm'': Zeit der Bürger

Sentiment und paramilitärische Härte: Uwe Tellkamps Epochenroman "Der Turm" über die letzten Jahre der DDR.

Auf Seite 716 ist es so weit. Ein einziges Mal gestattet sich Uwe Tellkamp in seiner Romanwelt wie einst Alfred Hitchcock in seinen Filmen einen Auftritt: „Das CT läuft wieder, Tellkamp ist informiert, er wartet schon.“ Mitte der achtziger Jahre in Dresden. Das städtische Klinikum hat mit Stromausfällen zu kämpfen, während im privilegierten Krankenhaus „Friedrich Wolf“, das die Nomenklatura von der Elbinsel „Ostrom“ versorgt, alles reibungslos abrollt. Die positive Nachricht „Das CT läuft wieder“ ist eine der raren Entwarnungen inmitten einer Symphonie des lustvoll zelebrierten Untergangs.

Der Lyriker, Epiker und Unfallchirurg Uwe Tellkamp, 1968 als Spross einer Ärzte- und Musikerfamilie in Dresden geboren, seziert die letzten sieben Lebensjahre der moribunden DDR. Zwei gleich starke Buchteile, „Die pädagogische Provinz“ und „Die Schwerkraft“, erzeugen in 72 Kapiteln einen kaum fassbar bunten und vielgestaltigen Strudel der Handlungsstränge und Bewusstseinsströme. Als vaterländischer Gesang strebt der Roman auf das eine so ersehnte wie überraschende Datum zu: den Tag der Maueröffnung am 9. November 1989.

Als die Protagonisten auf Seite hundert noch nicht tot waren, habe er gewusst, dass aus der Sache etwas Größeres werde, scherzte Uwe Tellkamp im vergangenen April bei der Vertreterkonferenz des Suhrkamp Verlags. In einem Interview 2004, als er gerade den Ingeborg-Bachmann-Preis für „Der Schlaf in den Uhren“ gewonnen hatte, sagte er, er fühle sich als „Librettist Wagners“: „Es geht mir um den Gestus der Wagner-Oper: Es ist ein weltumkreisender, anmaßender, weltschöpferischer, mythologischer Gestus.“ Das sind für die deutsche Gegenwartsliteratur ungewohnt romantische, ja hochfahrende Töne. Schon mit seinem zweiten Roman „Der Eisvogel“ (2005) hatte Tellkamp, der hamburgische Seeleute zu seinen Vorfahren zählt und mit dem unabgeschlossenen Großgedicht „Nautilus“ immer wieder neu in See sticht, für Irritationen gesorgt. Denn er war als Erzähler eins zu eins in die Figur des Wiggo Ritter geschlüpft, eines depravierten Bankierssohns, der sich einer rechten Terrorgruppe anschließt.

Nun entfaltet der Autor ein wesentlich breiteres, „demokratisches“ Panorama. Er lässt verschiedene Positionen zu Wort kommen, zum Beispiel den Lektor Meno Rohde mit seinen Tagebucheinträgen, einen regimetreuen Großdramatiker à la Peter Hacks oder eine junge Autorin, die von den Zensoren der „Papierrepublik“ in die Produktion gezwungen wurde.

In „Der Turm“ klingt die „Turmgesellschaft“ aus Goethes „Wilhelm Meister“ an. Mit seinem vielstimmigen Opus magnum hat sich Uwe Tellkamp eine ungeheure Fallhöhe geschaffen. Sie entspricht dem Abstand, den die weitverzweigten Protagonisten seines Romans, die im sogenannten Turmviertel hoch auf den Elbhängen wohnen, zu den gewöhnlichen Leuten unten in der Stadt einnehmen. Die Mühen der Ebene teilen sich phantasielose Rechthaber, bösartige Opportunisten mit SED-Parteibuch und das stumm unter Schikanen und Versorgungsengpässen leidende Volk in seinen Mietskasernen. Die Häuser dagegen, in denen die Zahn- und Schiffsärzte, Toxikologen oder Schauspielerinnen auf den Elbhöhen residieren, tragen als architektonische Persönlichkeiten Namen wie „Tausendaugenhaus“, „Fagott“ oder „Haus Karavelle“. Kinder namens Ezzo und Reglinde üben sich in Hausmusik oder rezitieren das Hildebrandslied.

Im „Haus Veronika“ befindet sich das alte Gemeindebad, in dem der blinde Bademeister Unthan einem antiken Höllenwächter gleich seinen Dienst tut. Aber auch verschmockter Altherrenhumor wie in der „Feuerzangenbowle“ findet hier ein Refugium, etwa bei der Feier zum 50. Geburtstag des Chirurgen Richard Hoffmann, einer der drei zentralen Männergestalten des Buches.

„Der Turm“ ist ein in der Schilderung physischen Verfalls hyperrealistischer Arztroman, der an Gottfried Benns Gedichtzyklus „Morgue“ gemahnt. Höchst eindrucksvoll ist mitzuerleben, wie der Chirurg Hoffmann, anfangs der sprichwörtliche Halbgott in Weiß, durch die zunehmende Repression und eine unglückliche außereheliche Liebesgeschichte an die Grenzen seiner selbst gerät.

Zwischen schmiedeeisernen Zäunen mit verrosteten Jugendstilblumen „wie großflügelige, schwermütige Nachtmotten“ entsteht eine verwunschene Welt, in welcher der Leser „mitwohnen“ kann, als bezöge er Quartier im stillgelegten Sanatorium „Weißer Hirsch“, wo früher Theo Lingen kurte. Die geschlossene Sphäre altdeutscher Behaglichkeit und Bildungsbeflissenheit wird zur Trutzburg gegen die funktionale „Erziehungsdiktatur“ DDR. Diese potenziert sich vor allem in der Brutalität der Nationalen Volksarmee, die von ihren Rekruten „Erziehungsbereitschaft“ erwartete. Christian, der musisch begabte ältere Sohn der Hoffmanns, wächst in einer Aura des pädagogischen Eros auf. In ihr entfalten Worte wie „Merigarto“ oder „Magelone“ beschwörende Kraft, nicht zuletzt durch den Einfluss seines Onkels Meno. Er wurde als Kind hochrangiger Genossen in Moskau geboren, ist seines Zeichens Zoologe, universell gebildeter Verlagslektor und vor allem ein politisch vorsichtiger Mann.

Der temperamentvolle Christian dagegen, ein Alter ego des Autors, erfährt beim Wehrdienst die volle Härte des Regimes. Uwe Tellkamp selbst verweigerte als NVA-Panzerkommandant im Oktober 1989 den Befehl, gegen Dresdner Demonstranten auszurücken, unter denen er seinen jüngeren Bruder wusste. Das brachte ihm einige Wochen Gefängnishaft ein. Als Christian nach dem Unfalltod eines Kameraden seine Vorgesetzten angreift, wird er vor ein Militärgericht gestellt und zu Zwangsarbeit am Karbid-Ofen eines Chemiewerks verurteilt. Retten kann ihn nur die Wiedervereinigung.

Wie bereits in „Der Schlaf der Uhren“, dem an Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ berauschten Vorläufertext über eine assoziative Straßenbahnfahrt durch Dresdens Historie, entsteht in „Der Turm“ durch die Verschränkung von Raum und Zeit ein rhapsodisches Gesamtkunstwerk. Die seit Februar 1945 auf ewig versehrte Kunststadt und ihr liebliches Umfeld werden zum atmenden Textkörper. Das bewirken eine raffinierte Lichtmetaphorik sowie Natur-, Jahreszeiten- und Wetterbeschreibungen in Form lyrischer Einschübe: „Dresden hockte als arthritischer Einsiedlerkrebs am Flußufer, Verpuppungsfäden liefen um die aufgerauhten Kanten der Neubauquader, deren Pudergrau unter die beinahe stillstehenden Schritte der Passanten wehte und sie aufblendend wie in überlichteten Fotos löschte.“

Uwe Tellkamps mäandernde, adjektivtrunkene Satzkaskaden errichten ein Museum der Dinge: vom Desinfektionsmittel Wofasept über reparaturanfällige flunderförmige Haarföne aus volkseigener Produktion bis hin zu Kokosnüssen. Zum 35. Jahrestag der Republik am 7. Oktober 1984 tauchen die „befilzten tropischen Reisekader“ unvermutet im Handel auf, Anlass zu einer ätzenden Karikatur des historischen Materialismus und dessen mechanischer Denkungsweise. Über die „Obszönitäten des Einkaufs“ in der sozialistischen Mangelwirtschaft als „negativer Fabel der Realität“ hatte sich ebenso Gert Neumann 1981 in seinem herausragenden Widerstandsroman „Elf Uhr“ beklagt, der aus dem Leipziger Kaufhaus „Zentrum“ erzählte. Für ihn wie für Tellkamps „Türmer“ gilt Novalis’ Erkenntnis, dass nur der geistvolle Staat der poetische sein kann. Zwangsläufig folgt in „Der Turm“ der Untergang des verhassten Systems: „Wie ein hochinfektiöser Holzsplitter steckte der Schrei der Tausenden Ausreisewilligen zum Balkon der Prager Botschaft, auf dem der bundesdeutsche Außenminister Freiheit verkündet hatte, im Gehör des müden und kranken Leibes, dessen vierzigster Geburtstag in ein paar Tagen gefeiert werden mußte.“

Sentiment und paramilitärische Härte gehen eine merkwürdige Verbindung ein. Bei aller Liebe zum Ornament prägt den Roman eine streng bipolare, parteiische Weltsicht, der man nicht zustimmen muss. Doch verfügt Uwe Tellkamp über einen Wortschatz, einen thematischen und stilistischen Reichtum, der seinesgleichen sucht. „Mutabor“ ist das zweite Kapitel überschrieben, „Verwandle dich“. Am Ende lässt der tausendseitige Solitär „Der Turm“ auch den Leser, die Leserin verwandelt zurück. Mehr kann man von Literatur nicht erwarten.

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2008. 976 S., 24,80 €. Uwe Tellkamp liest heute um 20 Uhr im LCB, Am Sandwerder 5

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