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Vor Staatspräsident General de Gaulle paradieren am 28. August 1959 Fallschirmjäger des „Commando Georges“ .

© AFP

Unser Nachbar im Westen: Die Provinz bleibt sich treu

Matthias Waechter zieht die langen Linien der Geschichte Frankreichs von 1880 bis in die Gegenwart.

Immer wieder offenbart sich Frankreich als ein Land voller Widersprüche. Auf europäischer Bühne macht der gegenwärtige Präsident Emmanuel Macron einen Reformvorschlag nach dem anderen, aber die „Gelbwesten“ haben vor allem in der Provinz gegen seine innenpolitischen Reformen demonstriert. Schon sein Amtsvorgänger Jacques Chirac, der im Jahr 2000 im Bundestag als erster ausländischer Staatschef sprach und die Vision einer europäischen Verfassung entwickelte, hatte ähnliche Probleme: Drei Jahre später musste er sich mit einem Generalstreik gegen seine Rentenreform herumschlagen.

Der "Motor" der EU

Mit keinem anderen Land ist Deutschland derart verwoben wie mit Frankreich. Auch wenn Macron derzeit nach neuen Partnern in der EU Ausschau hält, bleibt das deutsch-französische Duo von elementarer Bedeutung. Und wer in Deutschland die ganze Widersprüchlichkeit Frankreichs verstehen möchte, ist mit Matthias Waechters „Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert“ hervorragend bedient. Der Historiker, der das europäische Hochschulinstitut „Centre international de formation Européenne“ in Nizza leitet, führt den Leser zunächst zum Beginn des „langen“ 20. Jahrhunderts an die Epoche um 1880.

Schon damals taten sich Widersprüche zwischen dem Großmachtanspruch Frankreichs als zweitgrößter Kolonialmacht und einem gesellschaftlichen Stillstand im Innern auf. Der Industriesektor wuchs langsamer als in anderen europäischen Ländern, der ländliche Raum war weiter prägend für ein Land, dem im Kräftemessen mit Deutschland die stagnierende Bevölkerungszahl Sorgen bereitete. Da aber am Ende des 19. Jahrhunderts Frankreich auf Einwanderung angewiesen war, kam es hier schon 1889 zur Einführung des ius soli, das aus Einwandererkindern automatisch Franzosen machte. In Deutschland dauerte es bis zum Jahr 2000, bis eine vergleichbare Gesetzgebung eingeführt wurde.

Dritte, vierte, fünfte Republik

Zu den Umbrüchen, die am Beginn des „langen“ 20. Jahrhunderts während der Dritten Republik in Frankreich einsetzten, gehörte auch die Ausdehnung der staatlichen Zentralgewalt bis in den letzten Winkel des Landes mittels der französischen Sprache. Dort, wo zuvor ausschließlich Baskisch, Katalanisch oder Flämisch gesprochen wurde, setzten Grundschullehrer im Dienst der Republik das Französische durch.

Doch der Durchbruch zur Moderne gelang nur begrenzt. 1900, im Jahr der Weltausstellung, wird Paris nach den Worten von Waechter „in der gesamten Welt als das Sinnbild einer fortschrittlichen Metropole bewundert“. Zugleich aber zeigte „die Provinz eine bemerkenswerte Treue zu ihren hergebrachten, teils archaischen, der Scholle tief verbundenen Lebensformen“.

Atempause im Krieg?

Auch in der Zwischenkriegszeit blieben in Frankreich die kleinen Höfe, Werkstätten und Läden ein entscheidender Faktor. Um 1926 war die Industrie nach wie vor weitgehend auf den Nordosten des Landes beschränkt. Und westlich einer Linie von Le Havre bis Marseille arbeiteten damals in zahlreichen Départements nicht einmal 20 Prozent der Bevölkerung im Industriebereich.

Die Zwischenkriegszeit ist nach der Lesart zahlreicher französischer Historiker, die von Charles de Gaulle inspiriert wurde, nur eine friedliche Atempause in einem insgesamt 30-jährigen Krieg gegen Deutschland, der 1914 begann. Ganz bewusst verzichtet Waechter auf eine solche Einebnung der Ereignisse zwischen 1914 und 1945 und arbeitet im Gegenteil die Bedeutung des Jahres 1940 als Tiefpunkt der französischen Geschichte heraus. „Der Zusammenbruch Frankreichs unter dem deutschen Angriff muss als ein dreifacher Auflösungsprozess, nämlich des Militärs, der Zivilgesellschaft und der politischen Führung, verstanden werden“, analysiert er. Zu denen, die diesen Auflösungsprozess hautnah beschrieben, gehörte der Schriftsteller Léon Werth, der die chaotischen Wochen einer landesweiten Fluchtbewegung während des Vormarsch der Nazis auf Paris in seiner Erzählung „33 Tage“ festhielt.

Auch in Frankreich "Stunde null"

Frankreich zerfiel in jenen Tagen. Die „Stunde null“ stellt nach der Auffassung von Waechter den Schlüssel zu zahlreichen Entwicklungen in der französischen Nachkriegsgeschichte dar – von der wirtschaftlichen Neuordnung nach der Befreiung im Mai 1945 über die Entscheidung zugunsten der europäischen Einigung bis zur Dekolonisierung und der Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958.

Zur Neuordnung nach dem Mai 1945 gehörte zunächst die Verstaatlichung der Kohlebergwerke im Norden des Landes, des Autobauers Renault und schließlich der gesamten Elektrizitäts- und Gasbranche unter dem Dach des Staatsunternehmens EDF/GDF. Gleichzeitig wurde eine einheitliche Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung eingeführt. Sie enthielt aber immer noch zahlreiche Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen, die bis heute für Konflikte sorgen.

Ende des Kolonialreichs

Der 8. Mai 1945 läutete auch das Ende der französischen Kolonialherrschaft ein. Anfangs wollte Paris den Verlust der Kolonien unbedingt vermeiden. Allerdings war die Unabhängigkeit zunächst der Gebiete in Indochina nicht mehr aufzuhalten. Was die anschließende Dekolonisierung Afrikas anbelangt, so erinnert Waechter daran, dass nicht nur die Unabhängigkeit Algeriens von brutalen Operationen der französischen Streitkräfte begleitet wurde. 1947 kamen in Madagaskar zwischen 20 000 und 80 000 Menschen ums Leben, als die Kolonialmacht die dortige Unabhängigkeitsbewegung niederschlug. Unterbelichtet bei französischen Historikern ist auch der massive Einsatz des Militärs in Kamerun in den 1950er Jahren. Waechter verweist darauf, dass noch 2009 der damalige Premierminister François Fillon den Vorwurf, dass französische Truppen an Erschießungen kamerunischer Antikolonialisten teilgenommen hätten, als „reine Erfindung“ zurückwies.

Die (erneut) gespaltene Gesellschaft

Die Perspektive des „langen“ 20. Jahrhunderts erlaubt es Waechter, eine Verbindung von den innenpolitischen Debatten um die Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts zur aufgewühlten Lage in Frankreich während des Algerien-Krieges zwischen 1954 und 1962 zu ziehen. Sowohl während der Dreyfus-Affäre als auch in Zeiten des Algerien-Krieges ging ein Riss durch die Öffentlichkeit. Mitte des vergangenen Jahrhunderts waren die Regierungen der Vierten Republik immer weniger in der Lage, die Algerien-Frage zu lösen. In dieser Situation verübte de Gaulle 1958 einen kalten Staatsstreich, der zum noch heute gültigen Präsidialsystem der Fünften Republik führte.

Am Ende der Lektüre kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass es zahlreiche lange Linien in der französischen Zeitgeschichte gibt. Dazu zählen die eruptiven Diskussionen, wie sie zuletzt über die Grenzen der Einwanderung geführt wurden, aber auch das Oszillieren zwischen Weltoffenheit und Abschottung. Gegenwärtig werden die beiden konträren Positionen von Staatspräsident Macron und der Rechtsextremen Marine Le Pen besetzt. Wohin die verunsicherten Nachbarn langfristig tendieren, ist noch nicht ausgemacht.

Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2019. 608 S., 34 €.

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