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Horst M. Teltschik, hier bei Frank Plasberg im Juni 2017.

© imago/Eibner

Russland gibt dem Westen Rätsel auf: Vom alten zum neuen Kalten Krieg

Horst M. Teltschik zieht die Lehren aus der Überwindung der alten Systemkonfrontation zwischen Ost und West.

Er weiß, wovon er spricht. Denn er war nicht nur dabei, sondern mittendrin. Als ständiger Begleiter von Bundeskanzler Kohl bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit war er jedem Fernsehzuschauer präsent.

Bereits im Alter von 30 Jahren übernahm Horst M. Teltschik 1970 in der CDU-Bundesgeschäftsstelle im Konrad-Adenauer-Haus in Bonn die Leitung der „Außen- und Deutschlandpolitik“. Nur zwei Jahre später holte ihn Helmut Kohl als damaliger Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz in die Mainzer Staatskanzlei. Nun zählte Teltschik zum engeren Kreis um Kohl. 1977 wurde er dessen Büroleiter als Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Vom Kanzleramt in die freie Wirtschaft

Mit Kohl zog Teltschik 1982 ins Bundeskanzleramt ein und leitete dort die Abteilung „Auswärtige und innerdeutsche Beziehungen, Entwicklungspolitik, Äußere Sicherheit“. Ein Jahr später rückte er weiter auf und wurde stellvertretender Chef des Kanzleramts. Eine zentrale Rolle spielte er dann 1989/90 bei den deutsch-deutschen Gesprächen der Wendezeit als Sonderbeauftragter für die Verhandlungen mit Polen.

Anschließend wechselte Teltschik in die Wirtschaft, war Geschäftsführer der Bertelsmann-Stiftung in Gütersloh, Vorstandsmitglied der BMW Group für das Ressort „Wirtschaft und Politik“ und Beauftragter des Vorstands für Zentral- und Osteuropa, Asien und den Mittleren Osten. Schließlich leitete er bis 2008 die Münchner Sicherheitskonferenz und war in der Industrie tätig. Mitte 2003 folgte er dem Ruf einer Honorarprofessur an der Technischen Universität München und war 2009 Gründungspräsident des „Korean-German Institute of Technology“ in Seoul.

Russland heute, Sowjetunion damals

Warum ist all dies wichtig? Weil es dazu beiträgt zu verstehen, wie Teltschik zu den Thesen seines neuen Buches gelangt ist. In seinen verschiedenen Funktionen in Politik und Wirtschaft hat er es stets mit divergierenden Interessen zu tun gehabt. Es ging dabei immer darum, diese Interessen, ihre Herkunft und ihren Hintergrund zu verstehen, um dann einen Ausgleich zu versuchen. Zu seiner Zeit als politischer Beamter ist ihm dies immer wieder gelungen – gerade auch mit Russland. Umso mehr treibt Teltschik um, dass ebendies heute nicht mehr so recht gelingen will.

Wo liegt der Unterschied zu den Zeiten der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas? Warum erleben Ost und West einen neuen Kalten Krieg? Teltschik erinnert daran, dass es noch gar nicht so lange her ist, da sahen sich Russland und die Nato als Partner. Ungetrübt war das Verhältnis zwar auch in den 1990er Jahren nicht, aber es existierte doch ein gegenseitiges Grundvertrauen. Auf vielen Ebenen, auch im sicherheitspolitischen Bereich, kam es damals zu erfolgreicher Zusammenarbeit.

Alte Feindbilder wieder neu

Inzwischen muss auch Teltschik konstatieren, dass alte Feindbilder zurückgekehrt sind: In Russland sehen viele „den Westen“ als rücksichtslosen Konkurrenten, der das eigene Land gedemütigt habe und seine Einflusszone immer näher an die russische Grenze schieben wolle. Russlands Präsident Putin zieht nach Teltschiks Beobachtung einen gehörigen Teil seiner Popularität daraus, dass er eben diesem Westen Paroli biete.

Aber umgekehrt stehe auch bei uns das Feindbild Russland wieder in voller Blüte. Positive Nachrichten aus Moskau sucht man derzeit vergebens. „Stattdessen herrscht geradezu eine Obsession mit ,Putin‘, der auch in der deutschen Berichterstattung zunehmend zu einer Art omnipotentem Bösewicht wird“, schreibt Teltschik: „ Er scheint seine Finger in nahezu jeder üblen Machenschaft der Weltpolitik zu haben, und es gibt keine Schandtat, die man ihm nicht zutraut.“

Die Wirtschaft bleibt gelassen

Ob letztere Beobachtung die Wirklichkeit spiegelt, darf allerdings bezweifelt werden. Zum einen war beispielsweise das westliche Medienecho auf die Art und Weise, wie Russland seine Gastgeberrolle bei der Fußballweltmeisterschaft 2018 wahrnahm, keinesfalls negativ. Positive Berichte überwogen. Zum anderen sorgen sich die Deutschen derzeit wohl mehr wegen der Politik von Donald Trump als wegen der von Putin – und dies trotz des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der militärischen Intervention Putins zur Aufrechterhaltung von Assads Diktatur in Syrien.

Auch die deutsche Wirtschaft scheint Moskaus Politik nicht zu verschrecken. Im Gegenteil: Sie hat in Russland im ersten Quartal 2019 ein Drittel mehr investiert als im Jahr zuvor. In vielen Regionen der Welt waren deutsche Unternehmen zuletzt vorsichtig, weil die Weltwirtschaft an Schwung verliert und der Handelsstreit zwischen China und den Vereinigten Staaten als Bremse wirkt. Hingegen wollen Deutschlands Firmen nach einer Umfrage der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer auch künftig in Russland investieren. Zwar sind die Wirtschaftsbeziehungen wegen der Sanktionen des Westens als Reaktion auf die Krim-Annexion seit 2014 getrübt, haben sich zuletzt aber etwas entspannt.

Rüstungskontrolle lahmt, aber noch wird verhandelt

Auf ein wenig Entspannung stehen auch die Zeichen zwischen Moskau und Washington: Trotz der Aussetzung beziehungsweise Kündigung des INF-Vertrags zum Verzicht auf landgestützte atomare Mittelstreckenwaffen durch Russland und die USA sollen die Gespräche über gemeinsame Rüstungskontrolle fortgesetzt werden. Bei ihrem jüngsten Treffen am Rande des G-20-Gipfels der großen Wirtschaftsnationen im japanischen Osaka haben sich Putin und Trump darauf verständigt, sich um eine Verlängerung des New-Start-Vertrags zur Begrenzung strategischer Atomwaffen zu bemühen, der 2021 ausläuft. Der bisherige Vertrag sieht vor, die nuklearen Arsenale auf je 800 Trägersysteme und 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe zu verringern.

Vielleicht beginnen ja selbst Putin und Trump etwas zu beherzigen, das Teltschik als Kohls außenpolitischer Berater in einer der gefährlichsten Phasen des alten Kalten Krieges gelernt hat: Es braucht den persönlichen Draht der Spitzenpolitiker zueinander. Ohne Treffen und Gespräche entsteht kein Vertrauen. Und ohne Vertrauen können aus Gegnern keine Partner werden. Es war nach Teltschiks Wahrnehmung das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen Gorbatschow, Bush und Kohl, durch das die Überwindung des alten Kalten Krieges überhaupt nur möglich wurde.

Verzerrte Wahrnehmungen

Doch damit solch ein Vertrauensverhältnis überhaupt entstehen kann, muss man auch zuhören können und die Interessen seines Gegenübers zunächst einmal zur Kenntnis nehmen – im Grunde eine Binsenweisheit, wie auch Teltschik bemerkt. Aber passiert dies gegenwärtig genügend im Verhältnis zu Russland?

Genau hierzu beizutragen, ist das große Verdienst von Teltschik. Detailliert beleuchtet er verzerrte Wahrnehmungen der Kontrahenten auf beiden Seiten. Nach seiner Erfahrung auf dem internationalen Parkett gibt es in der Außenpolitik weder Schwarz noch Weiß, vielmehr dominierten verschiedene Schattierungen von Grautönen.

In Bezug auf Russland und den Westen zeichnet Teltschik diese Schattierungen trefflich nach. Es wäre sicherlich falsch, Russland nur als unschuldiges Opfer des Westens zu sehen. Beide Seiten hätten seit dem Ende des alten Kalten Krieges mehr tun können. Der Westen, kritisiert Teltschik, habe keine Strategie gehabt, zu wenig Initiative gezeigt und Russland als Machtfaktor nicht mehr ernst genommen. Die russische Seite wiederum hätte mehr Mut aufbringen müssen, auf den Westen zuzugehen.

Dialog bleibt das Gebot der Stunde

Teltschik warnt davor, Russlands Aggressionen der letzten Jahre zu verteidigen oder gar gutzuheißen. Zugleich ruft er die Nato dazu auf, ihre gegenwärtige Konfrontationspolitik durch Verhandlungsangebote zu ergänzen. Nur so, glaubt er, könne die Gefahr gebannt werden, vom „kalten Frieden“ in einen „heißen Konflikt“ zu schlittern. Es braucht Dialog statt Eskalation.

Als Beispiel dafür, wie ein festgefahrener Konflikt aufgelöst werden kann, empfiehlt Teltschik die Epoche der alten Systemkonfrontation zwischen Ost und West. Sie wurde zumindest zeitweise überwunden. Für die neue Systemkonfrontation – erweitert um China – wäre dies jetzt neuerlich zu wünschen. Ob dies erneut gelingen kann? Teltschik hält das passende Handwerkszeug bereit.

Horst Teltschik: Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. Verlag C.H. Beck, München 2019. 234 S. m. 13 Abb., 16,95 €.

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