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Rainald Goetz: Flirrender Echtweltstaub

25 Jahre pure Gegenwart: Rainald Goetz’ Roman "Irre" von 1983 und sein aktueller Blog "Klage" - ein Mann, der auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzt.

Am 21. April dieses Jahres bekommt Rainald Goetz bei der Zeitungslektüre mal wieder einen Kick. Er liest in der „Berliner Zeitung“ einen Diederichsen-Text über den Schlagzeuger Michael Wertmüller, freut sich allein an der Überschrift, „hölderlinisch inspiriert, aber heftig umgekippt ins Gegenwärtige“, und erinnert sich: „Genau so hatten sich für mich vor gut 25 Jahren, während ich am Schreiben von Irre gewesen war, die Popmusikartikel von Diedrich Diederichsen in Sounds angefühlt gehabt, genau so“, notiert er in seinen mit „Klage“ übertitelten Blog auf der „Vanity Fair“-Website.

Als unbedingter Gegenwartsfetischist neigt der Schriftsteller Rainald Goetz nicht zu Verklärungen, zum Abfeiern früherer, weil vermeintlich besserer Zeiten. Das schützt ihn nicht davor, bald selber zum Klassiker zu werden: Noch bevor der Suhrkamp Verlag für den Herbst endlich ein neues Goetz-Buch ankündigte, einen Blog-Extrakt namens „Klage“, legte er in der Bibliothek Suhrkamp Goetz’ Debütroman „Irre“ neu auf (373 S., 17, 80 €.)

Dieser erschien am 1. September 1983 in einem knalligen lila Umschlag mit gelber Schrift, allerdings ohne größeren Knalleffekt. Den hatte es zwei Monate zuvor gegeben, nachdem der damals 29-jährige Goetz sich beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt Wunden in seine Haut geritzt und blutend einen Text vorgetragen hatte. Auch sonst war er im Literaturbetrieb nicht mehr gänzlich unbekannt, es gab Veröffentlichungen im SuhrkampJahrgangsbuch „1982“, in der Popkulturzeitschrift „Spex“, nicht zu vergessen das „Tagebuch eines Medizinstudenten“ 1978 in der „Süddeutschen Zeitung“.

Der rasante Psychiatrie-und-Pop-Roman „Irre“ bildet einen Schlüssel zu Goetz’ weiterem Werk, bis zu eben jenem Blog (den Goetz demnächst wohl einstellt: „Klage feiert Abschied“ heißt es auf Flyern, mit denen Goetz am Sonnabend in eine Kreuzberger Galerie lädt.) Mit „Irre“ jedenfalls konnte Goetz weiterhin auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen: der Hochkultur, der Subkultur und der Medizin, genauer: der Psychiatrie, in der er ein Jahr als Arzt tätig war. „Irre“ entwickelte sich dann mit den Jahren zu einem Kultbuch für Wimps und New Waver genauso wie für Grass- und Walser-Hasser, für späte Punks wie frühe Raver. Sie alle hielten es mit „dem großen Ja in einer modernen Welt des permanenten Neins“, wie es Thomas Meinecke seinerzeit formuliert hatte, und sie alle liebten Goetz-Sätze wie diesen: „Zur Zeit ist es der ÖkoMumpitz und die FriedensHetze, nicht zu vergessen die Medien-, Video- und Computergefahr. Alles sehr wichtig, dauernd dieselbe Scheiße, WÜRG.“

Aber auch junge Mediziner fanden sich in „Irre“ wieder. Solche, die nicht irgendwann eine radiologische oder chirurgische Praxis aufmachen und bloß viel Geld verdienen wollten, sondern für die Medizin mehr war als Laborwerte und toller Technikpark: geistige, intellektuelle Herausforderung. „Irre“ ist zunächst ein Roman, der wie kein zweiter authentisch die Psychiatrie der frühen achtziger Jahre abbildet und den Klinikalltag präzise beschreibt (der sich übrigens in den neunziger Jahren nicht anders darstellte. Heute wohl auch nicht). Goetz erzeugt diese Authentizität, in dem er im ersten Kapitel auf einen Erzähler und Helden verzichtet. Er arbeitet dokumentarisch, mit vielen Perspektivwechseln: Es gibt Fallgeschichten von Depressiven, Schizophrenen, Drogensüchtigen, Beschreibungen von medikamentösen und Elektrokrampftherapien, vom Leben der Ärzte und Patienten, und ab und an meldet sich ein Ich zu Wort, das am Tag in einer Münchener Klinik als Assistenzarzt arbeitet und nachts auf Zechtour geht.

Dieses Ich heißt im zweiten Kapitel Raspe. Dessen ersten Tage in der Klinik werden nun erzählt: Raspe im Kreis der Kollegen, bei Visiten und Besprechungen. Zunehmend öffnet sich für den jungen Arzt ein Zwiespalt – zwischen Tag und Nacht, zwischen Krankenhaus und Fünf-bis-Sieben-Weißbier-Abstürzen in dunklen Punkschuppen. Und es wechseln wohlige Stimmungen – einen Platz im Kollegenkreis haben, Karriere machen – mit Ekelgefühlen „vor der ganzen Psychiatrie, vor seiner Gewöhnung an all das Grauenhafte“. Dieser Zwiespalt provoziert den Gedanken, alles hinzuwerfen, „die ganze Medizin, diesen Qualberuf von sich abhacken wie einen aus einer Warze herausgetriebenen und immer noch weiter karzinomgleich destruktiv wuchernden zweiten Kopf“.

Schließlich kippt das Ganze weg, überschrieben mit „Die Ordnung“, beginnend mit den Worten „Neu anfangen. Ja!, noch einmal anfangen, ganz anders. Endlich möchte ich anfangen. Ich hätte so gern ein Leben“. Raspe hat den Arztjob an den Nagel gehängt: „Jetzt täte ich in meine Leere gerne etwas hineinfüllen, vielleicht eben eine Kultur.“ Anstelle des personalen Erzählers Raspe tritt nun ein Ich, G., Goetz, der Autor, der seine Wunden leckt und alles eins werden lassen will: Leben, Schreiben, Wirklichkeit, Literatur.

Goetz schreibt kurze Absätze über Gott und die Kultur, über Achternbusch und Enzensberger, fällt über den Germanisten und Achternbusch-Spezialisten D. her, klatscht, tratscht, bastelt Komposita, deren Glieder jeweils mit einem Großbuchstaben beginnen, und ruft sich auch schon mal zur Ordnung: „Ich muß Schluß machen mit diesem FutzelKlamauk.“

Von der Psychiatrie in die Kultur: Der Pop, das Rolf-Dieter-Brinkmann-hafte bei Goetz, die Zitatkultur übernehmen nun das Zepter. Was sich im Krankenhaus nicht realisieren ließ, muss jetzt die Kultur leisten, die Vereinheitlichung von Arbeit und Leben: „Don’t cry – work!“ So bekommt dieser wie ein Triptychon entworfene Roman seinen Zirkelschluss, seine innere Geschlossenheit, seine Ordnung.

Und er verweist auf den Goetz, den wir heute kennen: den Internettagebuchschreiber, den „Klage“-Blogger, der angeblich seit Jahren vergeblich an einem Roman über den Berliner Politikbetrieb sitzt. Goetz schafft damals wie heute Material heran, misstraut dem stringenten Erzählen, ist mal sanft poetisch, mal rasend analytisch. Gerade das letzte „Irre“-Kapitel unterscheidet sich in seiner Häppchen- und Sprunghaftigkeit nicht von den Internetprojekten, ist gewissermaßen deren Blaupause, auch inhaltlich: Den Tratsch, die „Üblenachrede“ zum Beispiel begründet Goetz in „Irre“ damit, dass es ihm „maßlos um die Wahrheit“ geht. In „Klage“ heißt es nach intensivsten Auseinandersetzungen mit Florian Havemanns autobiografischem 1000-Seiten-Wälzer: „Klage selbst weiß aus langer Erfahrung am besten, dass gerade die persönlichkeitsrechtsverletzendsten Wahrheiten die schönsten Stellen einer Literatur ergeben. Die Beleidigung, die in der Echtwelt stimmt und deshalb trifft, explodiert im Text zur Überwahrheit, regnet auf das Ganze eines Textes als herrlich flirrender Echtweltstaub GLÄNZEND hernieder, ja.“

Heißt es in „Irre“, nichts sei „so phantastisch überwältigend wie das Authentische, nichts so unglaublich wie die wirkliche Wirklichkeit“, feiert Goetz in „Klage“ im Zusammenhang mit Havemann den Realismus als „aggressiv gegen sich selbst gerichtetes, ästhetisches Konzept“. Und er stellt die Widersprüche dar zwischen „ausgedachter Literatur“ und „der wirklich erlebten Erfahrung eines echten NERVÖSOR, wie er, in textentsprechender Weise auf Texte reagierend sich unweigerlich bildet“.

Wer so denkt und schreibt, tut sich schwer mit einem neuen Roman. Zumal Goetz’ Romane ohnehin nie konventionelle „Erzählliteratur“ waren, mit ausgedachten Figuren, dramaturgischem Kleinklein etc. Goetz hat ein Leben, und das ist die Kultur. Seine Arbeit ist die Kultur, das ständige Mitschreiben und Mitdenken kultureller Ereignisse, die Gegenwart des kulturellen Lebens. Wobei man sich fragt: Ist dieser Blickwinkel auf die Welt, auf die Gegenwart, nicht ein sehr enger? Wäre Goetz noch ein junger Autor, würde man ihm dann nicht vorwerfen, ihm mangele es an Welthaltigkeit, er müsse mal raus aus der Kultur, den Medien, aus Berlin Mitte, und rein in die Welt, was erleben?

„Bin ich endlich frei?“, fragt er im letzten Satz von „Irre“, „Ist endlich alles eins, meine Arbeit?“. Das kann nur er allein beantworten, konsistent zumindest ist sein Werk. So beklagt er am 21. April 1983 in dem Text „Wir Kontrolle Welt“, dass die totale Kontrolle der Kanäle einen so traurig und elend mache, „weil das alles wahr ist und weil das keiner erträgt“. Rainald Goetz hat es ertragen, erträgt es, fortlaufend. Er macht immer weiter. So schwer er sich seine Texte auch abringt.

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