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Drei Männer sitzen sehr entspannt in einer riesigen Werkhalle des Transformatorenwerks Oberschöneweide und spielen Karten.

© SDTB, Historisches Archiv / Foto: Günter Krawutschke

Politische Literatur: Was Staaten tun können, wenn die Wirtschaft nicht mehr floriert

Der Historiker Lutz Raphael beschreibt in seinem Buch, was es bedeutet, wenn im Kapitalismus ganze Industrien stillgelegt werden.

Schon seltsam, dieser Kapitalismus. Er baut ganze Industrien auf, die Hunderttausenden über viele Jahr Arbeit geben. Milliarden werden gemacht, mit Kohle und Stahl, mit Autos und Chemie. Dann lohnt sich die Produktion nicht mehr – und der Kapitalismus wendet unfassbare Summen auf, um Industrien erst zu verstaatlichen und dann abzureißen; Arbeiter in Langzeitarbeitslosigkeit zu schicken oder in Frührente und Vorruhestand; oder um Arbeitsmigranten mit „Rückkehrhilfen“ in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Genau das haben die alte Bundesrepublik, Frankreich und Großbritannien in den Jahren von 1970 bis 2000 durchgemacht. Man vergisst es leicht in einer Zeit neu aufflammender Debatten über die Abwicklung der DDR-Industrie und die Treuhand und über den Sozialismus als Alternative. Der Historiker Lutz Raphael legt jetzt eine Geschichte von drei Industriestaaten nach dem Boom vor, und die bietet einen spannenden und tief ausgeleuchteten Hintergrund für Diskussionen über das, was Staaten tun können, wenn die Wirtschaft nicht mehr floriert – und was sie besser unterlassen sollten.

Eine „Gesellschaftsgeschichte“: So ist das 525-Seiten-Werk des Trierer Historikers untertitelt. Es geht darin also so gut wie gar nicht darum, was Bundeskanzler und Regierungschefs in guten wie in schlechten Zeiten wirtschaftlich gewollt und entschieden haben, sondern um die Leute, die in boomenden Industrien Stahl gekocht, Kohle gefördert und Waschmaschinen montiert haben – darum, was mit diesen Menschen geschah, als Stahl, Kohle und Waschmaschinen woanders billiger zu bekommen waren.

Raphael hat, gestützt auf einen ganzen Forschungsapparat, eine interessanten, fantasievollen Forschungsansatz verfolgt: Er hat nicht bloß, wie für Sozialhistoriker üblich, Datenbanken ausgewertet und statistische Reihen verglichen, er hat sich an Nah- und Fernsichten versucht, indem er einzelne Lebensläufe ebenso darstellte wie die Entwicklung in Ländern, beispielhaften Regionen oder sogar einzelnen Unternehmen in allen drei Ländern. Dazu kommt noch eine an den Leitbegriffen orientierte Sicht auf Debatten und Diskussionen über wirtschaftliche Entwicklungen in der Öffentlichkeit.

Ein Buch wie eine stillgelegten Zeche – so könnte man es in einem schiefen Bild ausdrücken: Menschen tauchen auf, die froh sind um das Ende ihres Arbeitsplatzes, weil sie wissen, dass sie sich sonst eine Staublunge geholt und nicht viel von ihrer Rente gehabt hätten. Wie eine vom Kohlenstaub geschwärzte Gestalt kommt der englische Gewerkschafter Arthur Scargill dem Leser aus der historischen Kulisse entgegen: der Mann, der Tausende Kumpel in einen einjährigen Streik führte, an dessen Ende die britische Kohleindustrie erledigt war.

Ein Buch wie die Ruine eines Stahlwerks, könnte man mit einem anderen schiefen Bild sagen: Hier können sich Digital Natives und Jungmenschen, die in smarten Gewerben wie der Analyse großer Datenmengen Karriere machen, darüber informieren, wie der Arbeitsplatz aussah, an dem ihr Opa das Geld für den Opel Kadett verdiente.

So war es nämlich: Wer damals „in der Industrie“ arbeitete, hatte kein leichtes Leben bis zur Rente. Der Beruf des Industriearbeiters bedeutete, dass man nicht viel konnte und wusste, wenn man im Werk, in der Fabrik, auf der Zeche anfing. Um 1970, zu Beginn dieser Sozialgeschichte, endete der Aufschwung, den die Ökonomien überall im Westen – und auch in Japan – nach dem Zweiten Weltkrieg genommen hatten. Es kam die Zeit der großen Konfrontationen zwischen „Staat“ und „Gewerkschaft“. Denn der Staat fühlte oder machte sich zuständig, wo Krisen entstanden und Massenarbeitslosigkeit drohte. Nur ältere Leute mit einem sehr guten Gedächtnis wissen noch, dass Unternehmen wie die Autofirmen Renault in Frankreich oder British Leyland in England einmal Staatsbetriebe gewesen sind.

Funktioniert hat die Verstaatlichung nicht, in keinem der drei Länder. Verstaatlichungen waren stets nur politische Krisendämpfer. Jenseits der Massendemonstrationen oder Streiks wurden Arbeitsplätze und ganze Industrien demontiert, indem der Staat viel Geld, zumeist aus der Sozialversicherung, umverteilte.

Hier ist Raphaels Blick auf die Regionen besonders interessant – in der Bundesrepublik natürlich vor allem auf das Ruhrgebiet. In vielen größeren Städten sind die Spuren der Deindustrialisierung nach wie vor gut zu erkennen, etwa daran, dass frühere Arbeiterwohngegenden im Laufe der Jahre zu Problemgebieten geworden sind.

Vielleicht noch krasser als die gesellschaftlichen Langzeitwirkungen der Ära von Kohle und Stahl sind die politischen Folgen: Denn mit dem Ende der Zeit der „Malocher“ begann der Untergang der linken Volksparteien. Tony Blair in England und Gerhard Schröder im frischvereinten Deutschland haben versucht, Labour und die SPD sozusagen dem Zeitgeist entsprechend zu modernisieren; ihren Parteien hat es nicht geholfen, den Volkswirtschaften ihrer Länder sehr wohl. Mit dem Ende der Ära von Kohle und Stahl hat – Stichwort Euro- und Finanzkrise – eine Phase neuer Unsicherheiten begonnen. Da ist es gut zu wissen, welche politischen Konzepte, historisch gesehen, nichts taugen.

Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 525 S., 32 €.

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