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"Wir schaffen das." Dieser Satz Angela Merkels gehörte zu den historischen und folgenreichsten Sätzen der letzten 30 Jahre.

© Sven Hoppe/dpa

Politische Literatur: Ist Deutschland zu feige?

Edgar Wolfrum analysiert in "Der Aufsteiger" Deutschland nach 1990. Er beklagt fehlende Debatten und mangelnden Mut, zu internationaler Verantwortung

Die politischen Stürme im Inneren wie außerhalb Deutschlands haben nicht erst seit Thüringen, dem Verzicht von Annegret Kramp-Karrenbauer auf eine Kanzlerkandidatur oder dem Brexit begonnen. Nein, die gesellschaftlichen Verwehungen sind in den vergangenen 30 Jahren immer heftiger geworden. Vielleicht ist das der Grund, dass Edgar Wolfrum in seiner Einleitung einen Satz schreibt, der für einen Historiker ungewöhnlich persönlich erscheint. Ihn habe „der Optimismus“ auch beim Schreiben nicht verlassen, und man sollte diesen Optimismus auch „niemals verlieren“.

Wolfrums Buch heißt „Der Aufsteiger“ – und schaut man sich nur die letzten Wochen in Deutschland an, ist klar, wie ambivalent der Titel ist. Und dass es wohl eine Portion Glück braucht, um eine solche Zuschreibung dauerhaft zu bestätigen. Wolfrums Optimismus klingt deshalb nur auf den ersten Blick unpassend für eine zeitgeschichtliche Abhandlung, später wirkt er wie eine Parabel zum Rest des Buches, das den oft zwiespältigen Zustand der Deutschen beschreibt: einerseits persönlich in großer Mehrheit glücklich, andererseits als Nation zerstritten in Grundfragen.

Der Autor neigt zu einem schnellen Urteil

Wolfrums Vorläuferbuch hieß „Die geglückte Demokratie“, in dem er die Geschichte der alten Bundesrepublik bis 1990 einordnet. Die neue Studie lässt keinen Zweifel daran, dass im Vergleich zur ersten Epoche alles schneller und konfliktreicher wurde, was einen eher irritierten „Aufsteiger“ formte. Wolfrum setzt deshalb selbst ein Fragezeichen: „Im Inneren eine verunsicherte Demokratie und im Äußeren ein zaudernder Riese?“

Ein Verdienst Wolframs ist es, penetrant darauf aufmerksam zu machen, dass die großen gesellschaftlichen Grundfragen nicht ohne den Mut zu Grundsatzdiskussionen geklärt werden können. Und dass es oft an ebendiesem Mut mangelt. Gut ist auch, dass der Autor aufgrund der vielen politischen Wendungen sich nicht chronologisch vorarbeitet, sondern anhand von Themenfeldern – wie „Deutschland im Krieg“, „die Flüchtlingskrise“, „Europa am Scheideweg“ .

Im Mai 2010 legt Horst Köhler nach unglücklichen Aussagen sein Amt als Bundespräsident nieder.
Im Mai 2010 legt Horst Köhler nach unglücklichen Aussagen sein Amt als Bundespräsident nieder.

© Wolfgang Kumm dpa

Dabei versteht es Wolfrum, anschauliche Gegensätze zu bilden, wie etwa „Industrienation und Klimawandel“. Oft neigt der Autor dabei zu einem recht schnellen Urteil, Rot-Grün etwa war für ihn „eine Reformperiode wie seit 30 Jahren nicht mehr“. Die Kanzlerschaft Angela Merkels wiederum, die, wie er meint, als „kollegiale Sachverwalterin“ zur mächtigsten Frau der Welt wurde, sei frei von Pathos. Das mag überwiegend stimmen. Und doch war der einzige mit Pathos gesprochene Satz (in Wahrheit waren es mehrere) sehr entscheidend, weil besonders folgenreich: Er deckte ungewollt den tiefen, unsichtbaren Riss durch die Gesellschaft auf. Es war jener Satz vom 31. August 2015, nachdem Deutschland das Dublin-Verfahren für syrische Geflüchtete ausgesetzt hatte: „Wir schaffen das!“ Hier hätte es gelohnt, die gesellschaftlichen Identitätsrollen tiefer zu untersuchen. Gegensätze sind oft nur zwei Seiten derselben Medaille.

Mitte der 2000er Jahre wurde Deutschland weltweit Vorbild

Dennoch hat das Buch sehr viel mehr Stärken als Schwächen und fasst Geschichte spannend und auch für den historischen Laien lesenswert zusammen. Immer wieder führt Wolfrum zu den Grundfragen der Deutschen zurück: gute Führung oder zu viel Dominanz?

Besonders erhellend arbeitet er den Bruch im „Aufstieg“ nach 1990 heraus. Man bekommt manchmal ein fast tragikomisches Gefühl, wenn Wolfrum etwa den linksintellektuellen italienischen Historiker Angelo Bolaffi zitiert, der fand, dass „Europa in gleichem Maße deutsch werden sollte, wie Deutschland vollständig und überzeugt europäisch geworden ist“.

Geschichte wird gemacht. Der Beginn von Rot-Grün mit Kanzler Schröder, Außenminister Fischer und Finanzminister Lafonatine.
Geschichte wird gemacht. Der Beginn von Rot-Grün mit Kanzler Schröder, Außenminister Fischer und Finanzminister Lafonatine.

© Martin Athenstädt/dpa

Viele Europäer sahen Mitte der 2000er Jahre Deutschland als Vorbild. Internationale Umfragen zeigten, dass das Land in der Mitte Europas das populärste der Welt war; im Inneren scheinbar vollkommen gefestigt, „ein postklassischer Nationalstaat, als Großmacht gezähmt, supranational eingebunden“, schreibt Wolfrum. Und doch fehlte es an Orientierung und Gemeinsinn.

War Deutschland eine Weltmacht wider Willen, deren Vergangenheit wie ein Schutzschild vor zu viel Verantwortung wirkte?

Der Autor erinnert an Horst Köhler, den Bundespräsidenten, der 2010 zurücktrat, weil er eine, wie Wolfrum findet, „unerhörte Selbstverständlichkeit“ aussprach: dass es zwischen Militäreinsätzen und wirtschaftlichen Interessen Verbindungen gebe. „70 Jahre nach dem Krieg und 30 Jahre nach dem Mauerfall hatte Deutschland (...) nicht gelernt, auf der Grundlage seiner Werte seine Interessen zu definieren und (...) aktiv zu verfolgen.“

Wer sind wir, was wollen wir sein?

Das Buchende ist so überraschend wie der persönlich gefärbte Beginn: Anstatt, wie oft üblich, die Geschehnisse zusammenfassend zu bewerten, fordert Wolfrum seine Leser nochmals heraus. Er widmet sich anhand des Humboldt-Forums der Erinnerungs- und Streitkultur. Dabei geht es ihm nicht allein um die koloniale Vergangenheit, nicht nur um die „Dekolonisierung des Denkens“, wie es Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts, einmal schrieb. Sondern um die Frage: Verstehen wir als Nation, was wir tun? Für Wolfrum könnte das Humboldt-Forum im wiederaufgebauten Preußenschloss eine Art Katalysator für Erkenntnisse sein: Wer sind wir, und was wollen wir sein?
Edgar Wolfrum: Der Aufsteiger. Die Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 368 S., 24 €.

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