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© picture alliance / Sueddeutsche

Philipp Blom über die Jahre 1918-1938: Zerrissene Jahre

Der Erste Weltkrieg hat nicht zur Entfaltung der Moderne beigetragen, sondern sie nur unterbrochen, schreibt Philipp Blom in seinem neuen Buch. Das greift zu kurz

Philipp Blom hat in seinem überaus anregenden Buch „Der taumelnde Kontinent“ (2009) die These entwickelt, dass „alles, was im 20. Jahrhundert wichtig werden sollte, zwischen 1900 und 1914 erstmals seine Massenwirkung entfaltete oder sogar erfunden wurde“. Um diese These zu illustrieren, entwirft Blom ein reiches Panorama jener Scharnierzeit, in der Menschen agierten, deren Großeltern noch das Ancien Régime erlebt hatten, während ihre Enkel im Fernsehen verfolgen konnten, wie erstmals ein Mensch den Mond betritt. Wenn Blom die entscheidende Bedeutung der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg betont, so impliziert das zugleich die These, dass es eben nicht die vier Kriegsjahre selbst waren, die vor allem zur Entfaltung der Moderne beigetragen haben, wie es zum Beispiel von dem kanadischen Historiker Modris Eksteins behauptet worden war.

Seine kulturgeschichtliche Analyse der Gesellschaften des Westens greift zu kurz

In seinem neuen Buch „Die zerrissenen Jahre 1918–1938“ knüpft Blom an die These des früheren Buches an und verstärkt sie noch. Er wendet sich gegen die Auffassung, der Krieg habe einen radikalen Bruch für die betroffenen Gesellschaften dargestellt, und beschreibt die Kriegsjahre eher als eine Unterbrechung einer Entwicklung, die eben zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Ausgangspunkt gehabt habe. Es sei erstaunlich, „wie viele Themen und Strömungen sich von 1900 her fortsetzen und weit in die Zukunft hineinreichen“. In der Zwischenkriegszeit, die Gegenstand des neuen Buches ist, „transformierten die ungeheuren Energien der Moderne die Gesellschaften des Westens entlang derselben Achsen wie zuvor“.

Dass die Dynamik der Entfaltung der Moderne durch den Krieg unterbrochen war, ist sicherlich richtig. Aber Bloms kulturgeschichtliche Analyse der Gesellschaften des Westens greift zu kurz, weil er überhaupt nicht unterscheidet zwischen Siegerstaaten wie Großbritannien und Italien, besiegten Staaten wie dem Deutschen Reich, neu entstandenen Staaten wie der kleinen Republik Österreich und neutral gebliebenen Ländern wie Spanien. In Großbritannien war die Monarchie völlig unangefochten aus dem Krieg hervorgegangen, während in Deutschland die Abdankung aller bis dahin noch regierenden 22 Herrscherhäuser einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch nach sich zog. Wieder ganz anders war die Situation in den USA, denen Bloms besonderes Interesse gilt. Das Land war erst 1917 in den Krieg eingetreten, hatte fern der Heimat gekämpft, einen – im Vergleich mit den anderen Kriegsteilnehmern – geringen Blutverlust hinnehmen müssen und war, ökonomisch, politisch und strategisch, der eigentliche Sieger des Ersten Weltkriegs.

Philipp Blom widmet auch in seinem neuen Buch jedem Kalenderjahr ein Kapitel. Dabei stellt er jeweils ein Thema in den Mittelpunkt, 1920 die amerikanische Prohibition, 1921 die Frühgeschichte der Sowjetunion, 1923 die modernen Naturwissenschaften und 1931 den italienischen Faschismus. Dabei hat Blom manchmal eine mehr kulturgeschichtliche Perspektive, in anderen Kapiteln ist er näher an der politischen Geschichte. In einigen Kapiteln versucht der Autor auch Verbindungen herzustellen, etwa im Jahr 1937 zwischen dem Spanischen Bürgerkrieg und den Moskauer Schauprozessen. Das ist erhellend. Wenig überzeugend fällt die Verknüpfung dagegen in dem Kapitel über das Jahr 1935 aus. Zuerst schildert Blom eindrucksvoll die Jahre der „Dust Bowl“, als Teile der Great Plains von verheerenden Sandstürmen betroffen waren, die eine große Flüchtlingswelle in den Südwesten der USA auslösten. Dann versucht er dieses Geschehen mit Hilfe des Stichworts Flüchtlinge mit der jüdischen Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland in Verbindung zu bringen und kommt abschließend auf Palästina zu sprechen. Über den Nationalsozialismus schreibt Blom: „In Europa aber wuchs eine andere gigantische, erstickende Wolke aus einem Boden, der einmal fruchtbar gewesen war.“ Der Nationalsozialismus ein Naturereignis? So kann man Geschichte nicht erklären.

Baberowski, Wehler oder Kershaw werden nicht ausgwertet

Dieses Kapitel ist paradigmatisch für die Stärken und Schwächen des Buches. Blom weiß eine Menge über die amerikanische Kultur- und Gesellschaftsgeschichte zu erzählen. Aber sehr viel weniger trittsicher bewegt er sich auf dem Boden der europäischen Geschichte und zu den schwächsten Teilen des Buches zählen die Darstellungen zur deutschen Geschichte. Ausweislich seiner Bibliografie ist dem Autor der größte Teil der Grundlagenwerke zur europäischen Geschichte unbekannt. Er nennt weder die grundlegenden Forschungen von Jörg Baberowski zur russischen Geschichte noch die Arbeiten von Hans-Ulrich Wehler, Saul Friedlaender, Michael Brenner oder Ian Kershaw. Die Liste ließe sich verlängern.

Schon „Der taumelnde Kontinent“ wies einen Hang zum Anekdotischen auf. Der Autor hatte viel interessantes Material zutage gefördert, aber seine analytischen Stärken waren weniger ausgeprägt. Und doch überzeugte das Buch durch die Geschlossenheit der Darstellung. Sie ist in „Die zerrissenen Jahre“ verloren gegangen. Der Hauptgrund dafür ist womöglich die Ausweitung der Darstellung auf die Vereinigten Staaten. So beschreibt Blom ausführlich den amerikanischen Rassismus der Zwischenkriegszeit am Beispiel des wieder erstarkten Ku-Klux-Klan. Er kommt aber auf den noch ungleich wirkmächtigeren Rassismus des NS-Regimes nur ganz kursorisch, etwa im Zusammenhang mit den Nürnberger Gesetzen, zu sprechen. Und der Rassismus des Mussolini-Regimes wird überhaupt nicht erwähnt.

Philipp Blom ist ein kluger Autor und man erfährt in seinem Buch eine Menge, aber den großen Anspruch, eine Geschichte der Moderne der Zwischenkriegszeit zu bieten, kann er nicht einlösen. Der Leser bekommt eine ganze Menge funkelnder Mosaiksteine geliefert, aber er kann sie nicht zu einem Bild zusammensetzen. Auch der Versuch, das Zeitalter der Ideologien durch einzelne Parallelisierungen von Faschismus und Kommunismus zu illustrieren, bleibt ziemlich oberflächlich.

Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918–1938. Hanser Verlag, München 2014. 576 Seiten, 27,90 Euro.
Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918–1938. Hanser Verlag, München 2014. 576 Seiten, 27,90 Euro.

© Hanser

Blom hat auch dieses Buch selbst ins Deutsche übersetzt, aber die Übersetzung liest sich diesmal nicht ganz so gut. Auch lektoriert ist das Buch nicht immer sorgfältig. Und durch einen einfachen Faktencheck hätte man Fehler vermeiden können. So schreibt Blom, Georg Bernhard habe als „sozialdemokratischer Sozialist“, was immer das sein mag, dem Reichstag angehört. Tatsächlich war Bernhard als junger Mann einige Jahre Mitglied der SPD gewesen. Aber seit 1918 war er, wie viele jüdische Intellektuelle, ein prominentes Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei, die er dann von 1928 bis 1930 im Reichstag vertrat.

Wer sich über die Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit informieren will, jene Zeit, die – wie Blom richtig feststellt – als Nachkriegszeit begann und unversehens zu einer Vorkriegszeit wurde, der kann dieses Buch mit Gewinn zur Hand nehmen. Man erfährt Bemerkenswertes, zum Beispiel auch zur amerikanischen Filmgeschichte, aber eine konsistente Beschreibung der „zerrissenen Jahre“ bietet es nicht.

– Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918–1938. Hanser Verlag, München 2014. 576 Seiten, 27,90 Euro.

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