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Adolf Hitler bei einer Rede 1936.

© imago/United Archives International

Neue Literatur über Adolf Hitler: Volk und Führer verschmelzen

Volker Ullrich schildert im 2. Band seiner Hitler-Biografie die dramatischen „Jahre des Untergangs 1939–1945“.

Vor fünf Jahren veröffentlichte der Historiker und frühere „Zeit“-Redakteur Volker Ullrich den ersten Band seiner Hitler-Biografie über die „Jahre des Aufstiegs 1889–1939“. Dem Autor des 1000 Seiten umfassenden Werkes war bewusst, dass sich „längst eine weltweite Unterhaltungsindustrie (...) des Gegenstands bemächtigt“ und Hitler in eine Art „Pop-Ikone des Grauens“ verwandelt habe. Zur Begründung seiner monumentalen Arbeit beruft sich der Autor auf Thomas Mann, der 1939 in seinem Essay „Bruder Hitler“ schrieb: „Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden“; niemand sei „der Beschäftigung mit seiner trüben Figur enthoben“.

Wie „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein glaubt auch Ullrich, dass die Beschäftigung mit dem schaurigen Mythos Hitler „nie abgeschlossen sein“ könne, es werde „immer ein unerklärbarer Rest bleiben“. Von den zahlreichen bisherigen Versuchen, sich dem Phänomen dieser „trüben Figur“ biografisch zu nähern, hält er nur vier für „wirklich bedeutend und immer wieder anregend“. Es sind dies die im Schweizer Exil verfasste, allererste Biografie aus der Feder des Journalisten Konrad Heiden, der Hitler weder mystifizierte noch ins Lächerliche zog, dann die erste wissenschaftliche Studie des britischen Historikers Alan Bullock (1952), ferner das große Psychogramm des Außenseiters Joachim Fest (1973) und zuletzt die bislang umfangreichste und „maßstabsetzende“ zweibändige Publikation von Ian Kershaw. Der britische Historiker, der schon in den achtziger Jahren mit der Erforschung des „Mythos Hitler“ einem strukturellen Ansatz gefolgt war, hatte nun eine „Biografie in gesellschaftsgeschichtlicher Absicht“ geschrieben.

Für die meisten Rezensenten war dieses Werk auch ein Maßstab für die Arbeit Ullrichs. Sie lobten die umfangreiche Quellenrecherche des Autors und konstatierten nicht nur den „Anschluss“ an Kershaw, sondern zugleich den gelungenen Versuch, Hitlers Persönlichkeit wieder verstärkt in den Mittelpunkt zu rücken.

Lageberichte des Sicherheitsdienstes

In den Kommentaren aus dem Ausland, namentlich den USA, überwog die politische Aktualisierung des Themas. Der renommierte Fachhistoriker Christopher Browning bewertete das Buch als „verstörende wie aufschlussreiche Lektüre – nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch mit dem Blick auf die Gegenwart“, und die „New York Times“ entdeckte in dem Band eine „faszinierende“ Anti-Trump-Parabel. Der Autor selbst hält einen Vergleich Trumps mit Hitler „für nicht angemessen“ und sieht darin eine „große Verharmlosung Hitlers“.

Nun liegt der zweite Band, „Die Jahre des Untergangs“ mit ebenfalls monumentalem Umfang vor. Erst jetzt ist der Vergleich mit dem Gesamtwerk Kershaws sinnvoll. Inzwischen sind zudem weitere Biografien auf dem Markt, mit denen Ullrich sich auseinandersetzen musste. An Peter Longerichs Bild vom „omnipotenten Diktator“, der nach Belieben schalten und walten konnte, kritisiert er, dass die Gesellschaft des „Dritten Reichs“ merkwürdig „unterbelichtet“ bleibe. Man dürfe die Rolle von Hitlers Satrapen, die ihm – mit dem Wort Kershaws – „entgegenarbeiteten“, nicht unterschätzen.

Kein Staat hat sich jemals so blindwütig gegen die unabwendbare Niederlage gewehrt wie das NS-Regime im Frühjahr 1945. Noch die Kriegsgefangenen schwärmten von ihren Waffentaten, während Deserteure als Feiglinge verachtet wurden. Auch den Verschwörern des 20. Juli 1944 war „nur allzu bewusst“, dass sie keinen Rückhalt in der Bevölkerung besaßen und ein Attentat auf Hitler kaum auf Zustimmung stoßen würde.

Immer wird nach dem "Führer" verlangt

Eine bedeutende Quelle waren für Ullrich in diesem Zusammenhang die 8000 Seiten der geheimen Lageberichte „Meldungen aus dem Reich“ des Sicherheitsdienstes der SS, die dem „Führer“ und seinen Paladinen für die Jahre 1938–1945 ein „ungeschminktes Bild von der Stimmung im Lande“ geliefert haben. Dem für den SD-Inland zuständigen Otto Ohlendorf schwebte vor, wie er selbst erklärte, „ein Organ zu schaffen, das (...) die Staatsführung (...) in die Lage versetzen sollte, die im Volke vorhandenen oder entstehenden Auffassungen kennenzulernen und zu berücksichtigen“. Wem die Berichte zugeleitet wurden, ist nicht im Einzelnen bekannt. Hitlers, Goebbels’, Himmlers oder Heydrichs Äußerungen verraten jedoch eine genaue Kenntnis der Volksstimmungen. Im Zentrum der Beobachtung stand dabei die Beschreibung des Verhältnisses der Deutschen zu Hitler. So wird zum Beispiel im November 1940 berichtet, „dass eine ,Wochenschau‘ ohne Bilder des Führers nicht für vollwertig gehalten werde. Man wolle immer sehen, wie der Führer aussehe, ob er ernst sei oder lache“. Einig mit Hitler wähnte man sich in der Kritik am „Luxusleben der Plutokraten“. Besonders wichtig erschien den SD-Berichterstattern das Meinungsbild zu den „Vergeltungsaktionen“ gegen den „jüdischen Bolschewismus“. Auch hier war die „Wochenschau“ das zentrale Barometer.

Kein "Unfall" oder "Naturereignis"

Darüber hinaus versammelt auch Ullrichs zweiter Band ein breites Spektrum von Stimmen der Anhänger und Gegner. Als „Schlüsseldokument nicht nur zur Biografie Hitlers, sondern zur NS-Herrschaft überhaupt“ bewertet der Autor das umfangreiche Tagebuch von Joseph Goebbels. Es verdeutliche ausführlich, dass das Hauptziel des NS-Propagandaministers darin bestand, Volk und Führer total zu verschmelzen. Goebbels unterstützte die Selbstinszenierungen Hitlers bis zu dessen gruseligem Endritual vor dem Bild Friedrich des Großen. Und selbst Goethe musste noch 1943 in der antisemitischen Propaganda für die Wahrung „deutscher Traditionen“ herhalten.

Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Aussagen von Hitler-Gegnern und Exil-Autoren. So begründete Thomas Mann im US-Exil selbstkritisch, warum er Hitler für ein „echtes deutsches Phänomen“ halte.

Essen nach der Zerstörung im März 1943.
Essen nach der Zerstörung im März 1943.

© Albert Renger-Patzsch/aus dem Buch: Ruhrgebietsfotografien, Verlag der Buchhandlung Walther König 2018

Wäre der größte Zivilisationsbruch in der Geschichte – der Vernichtungskrieg in Osteuropa und der Mord an den europäischen Juden – ohne Hitler denkbar gewesen? Wohl kaum. Doch ohne die „Sozialpathologie der deutschen Gesellschaft“, glaubt Ullrich, hätte sich solch mörderisches Denken und Handeln nicht entwickeln können. Der Nationalsozialismus war weder ein „bedauerlicher Unfall“ noch ein unvorhersehbares „Naturereignis“, wie schon in Hitlers „Mein Kampf“ nachzulesen ist. Er konnte in vielem anknüpfen an das, „was im Kaiserreich bereits vorgedacht und praktiziert“ worden sei, und habe es „radikalisierend auf die Spitze“ getrieben.

Zu dieser Einschätzung kam auch der Historiker Friedrich Meinecke in seinen Nachkriegsbetrachtungen über „Die deutsche Katastrophe“. Im Aufschwung der antisemitischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts sah er bereits „ein erstes Wetterleuchten“ und „leises Vorspiel späterer Hitlererfolge“.

Ein wichtiger Vorläufer zu seiner Hitler-Biografie ist Ullrichs 1997 erschienenes Werk über die „nervöse“ deutsche Großmacht, „Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs“. Schon darin beleuchtete er den verhängnisvollen „Schulterschluss der konservativen Eliten mit der nationalsozialistischen Massenbewegung“ und die unverhohlene Sympathie des Exil-Kaisers Wilhelm II. mit Hitlers Kriegsführung und der Judenverfolgung. Erstaunlich ist, dass die diesjährigen Jubiläumsfeiern zum „Frieden“ von 1918 und der Novemberrevolution von den verhängnisvollen Kontinuitäten, die in den Zweiten Weltkrieg mündeten, nichts wissen wollten. So scheint das deutsche Medieninteresse auch an Ullrichs neuem Hitler-Buch vorbeizugehen.

Volker Ullrich: Adolf Hitler. Die Jahre des Untergangs 1939–1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2018. 893 S., 32 €.

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