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Natascha Wodin und Wolfgang Hilbig: Das verriegelte Gesicht

Natascha Wodin erzählt von ihrer Liebe zu dem Dichter Wolfgang Hilbig

Aus der Zeit gefallen wähnt sich die Erzählerin. Mitte der neunziger Jahre schimmert die DDR in Prenzlauer Berg nur noch undeutlich durch die Bauplanen, doch nach wie liegt Kohlegeruch über den Straßen. Die Menschen bewegen sich unbekümmert, lesen und lieben vor aller Augen und improvisieren ihr Leben. Die Aufbruchsstimmung wirkt so ansteckend, dass sie sich noch einmal ihrer Geschichte stellt, einer Ost-West-Ehekatastrophe, der sie in Berlin endgültig zu entkommen hofft.

Zehn Jahre hatte Hedda Rast mit dem Leipziger Dichter Jakob Stumm gelebt, zuerst in Nürnberg, dann im pfälzischen Edenkoben. Natascha Wodins erzählendes Alter Ego berichtet von endlosen Missverständnissen, brutalen Schuldzuweisungen und Gewalt, doch ist Wodins Roman „Nachtgeschwister“ gleichzeitig eine berückende Liebesgeschichte. Was hält eine Frau zehn Jahre lang an der Seite eines Gefühlsmonsters?

Ihre besondere Spannung bezieht diese Amour fou aus der realen Konstellation, die unverstellt in den Roman eingegangen ist. Der Dichter, mit dem Natascha Wodin verheiratet war, hieß Wolfgang Hilbig. 1986 hatte die Schriftstellerin ein Taschenbuch mit seinen Gedichten gekauft und war „wie vom Blitz getroffen. Schon von den ersten Zeilen, auf die mein Blick gestoßen war, ging eine Kraft aus, ein Licht, eine Dunkelheit, ein Schmerz, eine Schönheit, eine Wucht, dass ich zurückprallte und mich buchstäblich an der Tischkante festhalten musste, um nicht vom Stuhl zu fallen. Ich wusste sofort, dass ich auf etwas Großes gestoßen war, auf etwas Einmaliges, auf einen Dichter, wie es sie zu allen Zeiten nur vereinzelt gegeben hat.“ Ein fast religiöses Gefühl der Ehrfurcht und Liebe ergreift sie. Sie schreibt ihm, einige Monate später kommt er aus Leipzig, sie verlieben sich – ein Wunder, denkt sie. Auffällig nur, dass er ihr folgt wie ein herrenloses Hündchen. Umstandslos nistet er sich in ihrer Wohnung ein und tut, was er immer tat: Er sitzt die ganze Nacht am Küchentisch und schreibt.

Völlig unverständlich ist ihr, woher dieser stammelnde Mann mit dem schweren, sächsischen Dialekt seine Gedichte hat. Je mehr sie von seinem Leben erfährt, desto rätselhafter wird ihr sein Schreiben, denn er war aus Leipzig nie herausgekommen und lebte mit seiner Mutter in der Familie des analphabetischen, gewalttätigen Großvaters. Nach einer Lehre als Werkzeugmacher wird er Fabrikarbeiter, dann Heizer. Als Cherub „mit verriegeltem Gesicht“ erscheint er ihr, dessen seelische Zerstörung schnell offenbar wird. Das Zusammenleben mit dem Alkoholiker ist qualvoll, aber sie fühlt sich als seine Seelenverwandte. Wer, wenn nicht sie, soll ihm die Welt zurückgeben?

Natascha Wodin wuchs als Kind einer ukrainischen Zwangsarbeiterin in einem Lager für „displaced persons“ bei Nürnberg auf und galt ihren Mitschülern als verhasstes „Russenkind“, das sogar am Krieg schuld war. In ihrer Prosa hat sie das Gefühl des Ausgestoßenseins genau beschrieben, deshalb ist ihr das Angst-und Scham-Ungeheuer, das unter dem kindlichen Gesicht des Dichters steckt, vertraut. Sie skizziert es im Roman mitfühlend und klar, mit fast psychoanalytischem Blick. Nur dass er selbst sich im Westen nicht frei, sondern „falsch“ fühlt, versteht sie nicht. „Du bist der König, der dem Bettler weismachen will, dass der Fasan nicht schmeckt“, schreit sie ihn hasserfüllt an.

Hilbig erlebte Nürnberg als düsteres Niemandsland und gesteht im Roman „Das Provisorium“ mit selbstquälerischer Härte seine Alkoholabstürze und die Unmöglichkeit, sich der Geliebten verständlich zu machen. Stellt man beide Beschreibungen gegeneinander, tut sich ein Abgrund auf: Für den Dichter sind die Frauen boshafte Türhüter, die ihn und seine Literatur vernichten wollen.

Liebevoll und mit viel Sinn für Komik schildert Wodin den tagelang in ihrem Nachthemd durch die Wohnung schlurfenden Dichter, der sie mit seiner Eifersucht quält, während er ein erfolgreiches Buch nach dem anderen schreibt. Als sie einmal die Flucht ergreift, holen sein Lektor und ein Kritiker sie zurück und mahnen ihre Verantwortung für die Literatur an – eine groteske Situation, die von Anfang an das gemeinsame Leben bestimmt hatte. Der Roman will den vor zwei Jahren gestorbenen Hilbig nicht bloßstellen: Er ist die melancholische Hommage an einen Dichter, der selbst sein unerbittlichster Feind war.

Natascha Wodin: Nachtgeschwister.

Roman. Verlag Antje Kunstmann,

München 2009.

240 Seiten, 19,90 €.

Nicole Henneberg

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