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Nach der Auflösung des Gulag: Das Lager als Lebensform

Mirjam Sprau beschreibt, wie aus dem Gulag-Komplex Kolyma nach 1953 so etwas wie eine Stadt erwuchs - die Gebietshauptstadt Magadan.

Aus den bedrückenden, in ihrer Lakonie so eindringlichen Erzählungen von Warlam Schalamow ist die Kolyma als „Kältepol der Grausamkeit“ bekannt. Das riesige Gebiet im Nordosten Sibiriens barg jahrzehntelang einen der größten Lagerkomplexe des Gulag, der „Hauptverwaltung der Lager“, wie die nüchtern-nichtssagende Abkürzung für das Terrorinstrument des sowjetischen Volkskommissariats des Inneren (NKWD) lautete. Wer hierhin verbannt wurde, nach schematischem Verfahren zu zehn oder noch mehr Jahren Lagerhaft verurteilt, hatte nur mehr eine Lebenserwartung, die sich je nach vorgesehenem Einsatzort nach Monaten bemaß.

„Im Stalinismus hatte die Region“ – benannt nach ihrem größten Fluss Kolyma – „einen machtpolitischen Sonderstatus“, schreibt Mirjam Sprau, „sie bestand fast nur aus Lagern. Häftlinge wurden zur Förderung der reichen Rohstoffvorkommen, vor allem des Goldes, gezwungen.“ Die Frankfurter Historikerin hat Jahre damit verbracht, die Geschichte der Kolyma-Gegend zu erforschen, die „durch die klimatischen Extreme des Gebietes, seine naturräumlichen Bedingungen, seine Abgeschiedenheit und die Gewalt des Lagersystems“ gekennzeichnet ist. In ihrem bei aller Detailfreude sehr lesbaren Buch „Kolyma nach dem Gulag“ konzentriert sich Sprau auf die Zeit nach dem Tod Stalins 1953 mit der allmählichen Auflösung der Lager, bis gegen 1960 so etwas wie Sowjet-Normalität erreicht war, unter anderem durch die Bildung einer eigenen Stadt aus der vormaligen Lagerzentrale Magadan. Aber was für eine Normalität, wenn beispielsweise 1957 „jedem Bürger im Magadaner Gebiet eine Fläche von vier Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung“ stand!

Erst Gold, dann Uran: Der Osten Sibiriens birgt riesige Schätze

Die Kolyma wurde verwaltet und ökonomisch bearbeitet vom Industriekombinat Dal’stroj („Fern-Bau“): „In den 25 Jahren seiner Existenz, zwischen 1931 und 1956, förderte Dal’stroj 1187,1 Tonnen chemisch reines Gold“ – das entspricht einem Drittel der am kanadischen Klondike von 1885 bis heute geborgenen Goldmenge. Dazu kamen wertvolle Rohstoffe, nach 1948 insbesondere Uran. Zugleich wuchs der Machtbereich des Kombinats unaufhörlich, bis er „schließlich mit ca. 3 Mio. km² etwa ein Siebtel des Territoriums der Sowjetunion umfasste“. Unvorstellbar!

„Die Leistungen von Dal’stroj im Stalinismus“, schreibt Sprau, „beruhten im Wesentlichen auf drei grundsätzlichen Paradigmen: Alle Arbeit war auf gnadenlose Ausbeutung eines großen Heeres von Zwangsarbeitern ausgerichtet, die Goldförderung war extensiv und die Versorgung des Kombinats durch die Moskauer Zentrale wurde wie eine militärische Operation betrachtet.“ Dabei wurde die meiste Zeit über nach dem Prinzip der „Abschöpfung der Sahne“ vorgegangen, wie das einer der Stalin-Zeit-typischen Propagandaschriftsteller ganz offen benannte: von einem Goldlager alsbald zum nächsten, ohne je eine einzelne Lagerstätte auch nur annähernd systematisch auszuschöpfen. Die höchste Jahresmenge an Gold wurde bereits 1937 erreicht und nahm danach stetig ab. „Durch diese Art der Förderung wurden weite Landstriche innerhalb weniger Jahre in regelrechte Mondlandschaften verwandelt, ganze Regionen chemisch verseucht, Flusslandschaften vollkommen zerstört und riesige Waldflächen zur Gewinnung von Brennmaterial abgeholzt.“

Über die Arbeitsmethoden haben Schalamow und die gleichfalls zu vieljähriger Haft verurteilte Jewgenia Ginsburg Erschütterndes geschrieben. Mirjam Sprau sagt es in Kürze: „Schwerste Arbeiten mussten per Hand erledigt werden, und durch eine ineffektive Verwendung der vorhandenen Technik kam es zu ausgesprochen vielen Unfällen.“

Im Zuge der noch vom – kurz darauf selbst hingerichteten – NKWD-Chef Berija angestoßenen Reformen nach Stalins Tod 1953 wurden „unionsweit etwa 1,2 Millionen Menschen amnestiert und konnten in den folgenden Monaten sowjetische Lager verlassen“. Dal’stroj geriet in eine schwere Krise, weil „die Zwangsarbeiter für die Planerfüllung unentbehrlich waren“. Die in der ganzen Sowjetunion auftretenden Probleme, etwa der rapide Anstieg der Kriminalität durch die sich selbst überlassenen, durch das Lager meist vollständig entwurzelten Häftlinge, betraf naturgemäß auch die Kolyma.

Aus Lager wird Siedlung wird Stadt

Doch mit der allmählichen Überführung in eine zivile Verwaltung kam es zu einer Art Verstetigung des Lagerkomplexes: „Größere Siedlungen gewannen, auch wenn sie einstmals als Lagerpunkte gegründet worden waren, mehr und mehr eine Daseinsberechtigung unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung aufgrund der dort vorhandenen Krankenhäuser, Schulen und Verwaltungseinrichtungen.“ Die Gebietshauptstadt Magadan veränderte sich sichtbar: „Breite Straßen mit Bürgersteigen wurden angelegt, für Magadaner Verhältnisse ,prächtige Gebäude‘ und Hotels errichtet. (...) Ein großer Sportpalast, weitere Schulen und Hochschulen, Kinos, Klubs, ein Erholungspark sowie spezialisierte Gesundheitseinrichtungen wurden eröffnet.“

Erstmals im Leben ein Wasserklosett

Jewgenija Ginsburg hat die persönlichen Veränderungen nach der Haftentlassung – die nicht mit der Rückkehr an den einstigen Wohnort, schon gar nach Moskau oder Leningrad gleichzusetzen ist! – so beschrieben: „Wir bekamen ein Zimmer mit 20 Quadratmetern in einer Wohnung, in der außer uns nur noch zwei Familien lebten. Und das nach der Baracke von Nagajewo mit ihren 29 Mitbewohnern! (...) Eines hatten wir in den letzten 20 Jahren ganz gewiss nicht gesehen – ein Wasserklosett.“

Es waren machtpolitische Gründe – vor allem Chruschtschows Kampf um die Parteiherrschaft gegen den übermächtig werdenden Berija –, die die Wandlung der Kolyma bewirkten: „Die Entlassung der Häftlinge und die Auflösung der Lager waren dabei gewissermaßen Nebeneffekte. Die persönliche Freiheit, die ein Entlassener gewinnen konnte, die Chance auf ein Leben, die das Ende der Zwangsarbeit bedeutete, all das findet keinen Widerhall in den offiziellen Beschreibungen des Magadaner Alltags der späten 1950er Jahre – weil es darum nicht ging.“ In der Bewertung der machtpolitischen Komponente folgt die Autorin dem Forschungsstand zum Gulag. Der nämlich hatte „sich zu einer ungeheuren Belastung entwickelt“. Chruschtschow äußerte später gleichmütig, man müsse „die dunklen Flecken von Magadan und der Kolyma nehmen, man muss mit voller Kraft die Linie unserer Partei, ein normales Leben und eine zivile Bevölkerung durchsetzen“.

Mit Lohnarbeit lässt sich die unwirtliche Gegend nicht erschließen

„Normal“ ist die Kolyma dann doch nicht geworden. Mit dem Zerfall der Sowjetunion entfielen die ökonomischen Anreize, die seit dem Ende des Gulag freiwillige Facharbeiter in den unwirtlichen Nordosten gelockt hatten. In den 1990er Jahren „gab es in weiten Teilen des Gebietes keine Investoren, die unter den bestehenden klimatischen und demographischen Bedingungen die Rohstoffförderung aufrechterhalten wollten. (...) Fast zeitgleich lösten sich die Siedlungen auf, Kindergärten und Krankenhäuser schlossen, die Verwaltung wurde abgezogen. Zurück blieben Geisterstädte, die von der langen Wirkung eines stalinistischen lager-industriellen Komplexes in der russischen Peripherie künden.“

Der Gulag ist Geschichte; Mirjam Spraus Buch allerdings bildet eine unentbehrliche Quelle, um dessen historische Bedeutung und Folgen zu begreifen.

Mirjam Sprau: Kolyma nach dem Gulag. Entstalinisierung im Magadaner Gebiet 1953–1960. Verlag De Gruyter, Berlin/Boston 2018. 408 S. m. 70 Abb., 99,95 €.

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