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claude lévi-strauss

© AFP

Leseprobe: Traurige Tropen

Sein Bericht über eine Expedition zu den Eingeborenen am brasilianischen Amazonas gehört zu den Klassikern der philosophischen Reiseliteratur im 20. Jahrhundert. Ein Auszug aus der Neuausgabe zum 100. Geburtstag des berühmten Ethnologen.

Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende. Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten. Doch wie lange hat es gedauert, bis ich mich dazu entschloss! Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit ich Brasilien zum letzten Mal verließ, und in all diesen Jahren habe ich oft den Plan gefasst, dieses Buch zu schreiben; aber jedes Mal hat mich ein Gefühl der Scham oder des Überdrusses davon abgehalten.

Soll man etwa des Langen und Breiten die vielen kleinen Belanglosigkeiten und unbedeutenden Ereignisse erzählen? Für das Abenteuer gibt es im Beruf des Ethnologen keinen Platz; es ist für ihn nichts weiter als ein Zwang, dem er sich unterwerfen muss; es beeinträchtigt seine Arbeit durch das Ungemach verlorener Wochen oder Monate, vieler Stunden, die müßig vergehen, weil der Informant sich davonschleicht: durch Hunger, Müdigkeit, manchmal auch Krankheit, und fast immer durch jene tausend Beschwerlichkeiten, die so sinnlos die Tage beschneiden und das gefahrvolle Leben im Urwald in eine Art Militärdienst verwandeln…

Dass es so vieler Mühen, so viel vergeblichen Aufwands bedarf, um dem Gegenstand unserer Untersuchungen nahe zu kommen, wertet diese eher negative Seite unseres Berufs keineswegs auf. Die Wahrheiten, nach denen wir in so weiter Ferne suchen, haben nur dann einen Wert, wenn sie von dieser Schlacke befreit sind. Gewiss kann man eine sechsmonatige Reise voller Entbehrungen und tödlicher Langeweile auf sich nehmen, um einen unbekannten Mythos, eine neue Heiratsregel oder eine vollständige Liste von Clan-Namen zu sammeln (was wenige Tage, manchmal nur wenige Stunden in Anspruch nimmt), doch verdient eine armselige Erinnerung wie folgende: „Morgens um 5 Uhr 30 legten wir in Recife an, während die Möwen kreischten und eine Schar von Händlern, die Südfrüchte anboten, sich um das Schiff drängten“, dass ich die Feder in die Hand nehme und sie festhalte? Aber genau diese Sorte von Berichten genießt eine Beliebtheit, die mir unerklärlich ist.

Amazonien, Tibet und Afrika überschwemmen die Buchläden in Form von Reisebüchern, Forschungsberichten und Fotoalben, in denen die Effekthascherei zu sehr vorherrscht, als dass der Leser den Wert der Botschaft, die man mitbringt, würdigen könnte. Statt dass sein kritischer Geist erwacht, gelüstet ihn immer mehr nach dieser Speise, von der er Unmengen vertilgen kann. Heutzutage ist es ein Handwerk, Forschungsreisender zu sein; ein Handwerk, das nicht, wie man meinen könnte, darin besteht, nach vielen Jahren intensiven Studiums bislang unbekannte Tatsachen zu entdecken, sondern eine Vielzahl von Kilometern zu durchrasen und – möglichst farbige – Bilder oder Filme anzusammeln, mit deren Hilfe man mehrere Tage hintereinander einen Saal mit einer Menge von Zuschauern füllen kann, für die sich die Platitüden und Banalitäten wundersamerweise in Offenbarungen verwandeln, nur weil ihr Autor, statt sie an Ort und Stelle auszusondern, sie durch eine Strecke von 20 000 Kilometern geadelt hat.

Was hören wir in solchen Vorträgen und was lesen wir in solchen Büchern? Wir erfahren, was die mitgenommenen Kisten enthalten, was der kleine Hund, der sich an Bord befand, angestellt hat, und, vermischt mit Anekdoten, einige verwaschene Informationsfetzen, die schon seit einem halben Jahrhundert in allen Handbüchern herumschwirren und die eine nicht alltägliche Dreistigkeit, die jedoch der Naivität und Ignoranz der Konsumenten die Waage hält, sich nicht scheut, als ein Zeugnis, was sage ich, eine neue Entdeckung anzupreisen. Sicher gibt es Ausnahmen, und zu jeder Zeit hat es redliche Forschungsreisende gegeben; und zwei oder drei von denjenigen, die sich heute die Gunst des Publikums teilen, könnte ich sofort mit Namen nennen.

Mein Ziel ist es nicht, die Mystifikationen zu entlarven oder Diplome zu vergeben, sondern vielmehr, ein moralisches und soziales Phänomen zu begreifen, das sich besonders in Frankreich und auch hier erst seit kurzem breitmacht. Vor zwanzig Jahren unternahm man selten eine Reise, und die Erzähler von Abenteuern wurden nicht in überfüllten Konzertsälen begrüßt, sondern in dem einzigen Ort, den es in Paris für diese Art von Vorstellungen gab, nämlich in dem dunklen, eiskalten und baufälligen kleinen Hörsaal in einem alten Gebäude am Ende des Jardin des Plantes.

So sah die Rückkehr aus, kaum schauriger als die Feierlichkeiten der Abreise: das Bankett, welches das franko-amerikanische Komitee in einem Hotel der heute so genannten Avenue Franklin Roosevelt gegeben hatte, einem unbewohnten Gebäude, in das zwei Stunden vorher ein Gastwirt gekommen war, um sein Lager aus Kochplatten und Geschirr aufzuschlagen, ohne dass es einer hastigen Lüftung gelungen wäre, den Geruch von Verödung zu vertreiben. An die Würde eines solchen Ortes ebensowenig gewöhnt wie an die staubige Langeweile, die er ausdünstete, um einen Tisch sitzend, der viel zu klein war für den riesigen Saal – man hatte gerade noch Zeit gehabt, den nun tatsächlich benützten Mittelteil auszufegen –, kamen wir zum ersten Mal miteinander in Kontakt, junge Professoren, die wir gerade erst die Arbeit an unseren Provinzgymnasien aufgenommen hatten und die eine etwas perverse Laune von Georges Dumas plötzlich aus dem feuchten Winterhafen in den möblierten Zimmern einer Kleinstadt, die ein Geruch von Grog, Keller und erkaltetem Rebholz durchtränkte, herausgerissen hatte, um sie auf die tropischen Meere und auf Luxusdampfer zu schicken; im übrigen alles Erfahrungen, die dazu beitrugen, eine ferne Beziehung zu dem unausweichlich falschen Bild zu knüpfen, das wir uns – ein Schicksal, das den Reisen anhaftet – bereits von ihnen machten.

* * * Die Welt hat ohne den Menschen begonnen, und sie wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebräuche, die ich mein Leben lang gesammelt und zu verstehen versucht habe, sind die vergänglichen Blüten einer Schöpfung, der gegenüber sie keinen Sinn besitzen, es sei denn vielleicht den, dass sie es der Menschheit erlauben, ihre Rolle in dieser Schöpfung zu spielen. Abgesehen davon, dass diese Rolle der Menschheit keinen unabhängigen Platz verschafft und dass das Bemühen des Menschen – auch wenn es zum Scheitern verurteilt ist – darin besteht, sich vergeblich gegen einen universellen Verfall zur Wehr zu setzen, erscheint der Mensch selbst als eine Maschine – vollkommener vielleicht als die übrigen –, die an der Auflösung einer ursprünglichen Ordnung arbeitet und eine in höchstem Maße organisierte Materie in einen Zustand der Trägheit jagt, die immer größer und eines Tages endgültig sein wird.

Seitdem der Mensch begonnen hat, zu atmen und sich zu ernähren, seit der Entdeckung des Feuers bis zur Erfindung atomarer und thermonuklearer Verrichtungen, hat er – außer wenn er sich fortpflanzte – nichts anderes getan, als unbekümmert Milliarden von Strukturen zu zerstören, um sie in einen Zustand zu versetzen, in dem sie sich nicht mehr integrieren lassen. Ohne Zweifel hat er Städte gebaut und Felder bestellt; aber letztlich sind auch diese Dinge nur Maschinen, dazu bestimmt, Trägheit zu produzieren, und zwar in einem Rhythmus und in einem Verhältnis, die weit größer sind als die Menge an Organisation, die diese Städte und Felder voraussetzen.

Was die Schöpfungen des menschlichen Geistes betrifft, so existiert ihr Sinn nur in Bezug auf ihn selbst, und sie werden im Chaos versinken, sobald er erloschen sein wird. So dass sich die ganze Kultur als ein Mechanismus beschreiben lässt, in dem wir nur zu gern die Chance des Überlebens sehen möchten, die unser Universum besitzt, wenn seine Funktion nicht darin bestünde, das zu produzieren, was die Physiker Entropie und wir Trägheit nennen. Jedes ausgetauschte Wort, jede gedruckte Zeile stellt eine Verbindung zwischen zwei Partnern her und nivelliert die Beziehung, die vorher durch ein Informationsgefälle, also durch größere Organisation gekennzeichnet war. Statt Anthropologie sollte es „Entropologie“ heißen, der Name einer Disziplin, die sich damit beschäftigt, den Prozess der Desintegration in seinen ausgeprägtesten Erscheinungsformen zu untersuchen.

Dennoch existiere ich. Sicher nicht als Individuum; denn was bin ich in dieser Hinsicht anderes als der Einsatz im Kampf zwischen einer Gesellschaft, welche aus Milliarden von Nerven unter dem Termitenhügel des Schädels besteht, und meinem Körper, der ihm als Roboter dient? Weder die Psychologie noch die Metaphysik, noch die Kunst können mir Zuflucht sein, Mythen, die von nun an, auch von innen her, einer Soziologie neuer Art unterworfen sein können, die eines Tages entstehen und sie nicht freundlicher behandeln wird als die alte. Das Ich ist nicht allein hassenswert; es hat auch keinen Platz zwischen einem Wir und einem Nichts. Und wenn ich mich letztlich für dieses – wie auch immer scheinhafte – Wir entscheide, so deshalb, weil mir, will ich mich nicht selbst zerstören – eine Tat, welche die Bedingung der Entscheidung aufheben würde –, nichts bleibt, als eine Wahl zwischen diesem Schein und dem Nichts zu treffen, so dass ich durch eben diese Wahl meine menschliche Lage ohne Vorbehalt auf mich nehme: Indem ich mich von einem intellektuellen Hochmut befreie, dessen Eitelkeit ich an der seines Gegenstands ermessen kann, bin ich auch bereit, seine Ansprüche den Anforderungen unterzuordnen, welche die Befreiung einer großen Masse von Menschen stellt, denen die Möglichkeit einer solchen Wahl seit jeher verweigert wird. Sowenig das Individuum in der Gruppe und eine Gesellschaft unter den anderen allein ist, sowenig auch ist der Mensch allein im Universum.

Wenn der Regenbogen der menschlichen Kulturen endlich im Abgrund unserer Wut versunken sein wird, dann wird – solange wir bestehen und solange es eine Welt gibt – jener feine Bogen bleiben, der uns mit dem Unzugänglichen verbindet, und uns den Weg zeigen, der aus der Sklaverei herausführt und dessen Betrachtung dem Menschen, auch wenn er ihn nicht einschlägt, die einzige Gnade verschafft, der er würdig zu werden vermag: nämlich den Marsch zu unterbrechen, den Impuls zu zügeln, der ihn dazu drängt, die klaffenden Risse in der Mauer der Notwendigkeit einen nach dem anderen zuzustopfen und damit sein Werk in demselben Augenblick zu vollenden, da er sein Gefängnis zuschließt; jene Gnade, nach der jede Gesellschaft begehrt, wie immer ihre religiösen Vorstellungen, ihr politisches System und ihr kulturelles Niveau beschaffen sein mögen; jene Gnade, in die sie ihre Muße, ihr Vergnügen, ihre Ruhe und ihre Freiheit setzt; jene lebenswichtige Chance, sich zu entspannen, loszulösen, das heißt die Chance, die darin besteht – lebt wohl, Wilde! lebt wohl, Reisen! –, in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Gattung erträgt, ihr bienenfleißiges Treiben zu unterbrechen, das Wesen dessen zu erfassen, was sie war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, der weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen –, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze.

Wir entnehmen diesen – Anfang und Ende des Buchs collagierenden – Auszug mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags. In diesen Tagen erscheint dort eine Neuausgabe der „Traurigen Tropen“ in der Übersetzung von Eva Moldenhauer. Der Band umfasst 541 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und 40 Gouachen von Mimmo Paladino, er kostet 38 Euro.

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