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Demonstration von „Fridays for Future“ in der Friedrichstraße r 2019.

© Geisler-Fotopress

Krise des Liberalismus (I): Freiheit neu denken

Jan-Werner Müller fordert einen Liberalismus, der die Schwächeren nicht alleinlässt.

Der Liberalismus hat es derzeit schwer. Die einen werfen ihm vor, dass die neoliberalen Jahrzehnte der Globalisierung die soziale Ungleichheit verschärft und die natürlichen Lebensgrundlagen aufs Spiel gesetzt hat. Die anderen kritisieren liberale Eliten, die im Namen der Toleranz und der Vielfalt traditionelle Werte, Gemeinschaft, Heimat zerstören würden. Selbst Liberale scheinen in der Defensive, bekennen öffentlich, dass sie sich in der Vergangenheit mehr um Minderheiten als um die Mehrheitsgesellschaft gekümmert und die Verbindung zu den einfachen Menschen verloren hätten. Ist der Liberalismus also am Ende?

Nein, sagt Jan-Werner Müller, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Princeton und hierzulande vor allem durch seine Essays zum Rechtspopulismus bekannt. Der Liberalismus habe durchaus eine Zukunftsperspektive, aber er müsse sich verändern.

Vordenkerin Judith Shklar

Müller greift dabei auf Überlegungen der angesehenen amerikanischen Politologin Judith Shklar zurück, die, 1928 in Riga geboren, mit ihrer Familie 1939 den Nationalsozialisten entkommen konnte, über Schweden und Kanada schließlich die USA erreichte und an der Harvard-Universität Professorin wurde.

Shklar zog aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die sie selbst erlebt hatte, den Schluss, dass es für eine liberale politische Ordnung am wichtigsten sei, Menschen nie wieder dem Gefühl völliger Ohnmacht und Willkür auszuliefern, sondern eine existenzielle Sicherheit zu gewährleisten, die ein Leben in Freiheit erst ermögliche. Daher brauche es einen „Liberalismus der Furcht“, also die Bereitschaft, den Mächtigen Grenzen zu setzen und jenen Menschen zuzuhören, die Unsicherheit, Deprivation, Verfolgung, Gewalt erleiden.

Das ist freilich ein anderes Verständnis als im herkömmlichen Liberalismus, den Müller zunächst noch einmal rekapituliert. In der liberalen Hoch-Zeit des 19. Jahrhunderts hieß liberal, staatliche Ansprüche zurückzuweisen, die Freiheit des Individuums und des Marktes zu verteidigen. Klug führt Müller durch die Geschichte des Liberalismus bis hin zu jenen neoliberalen Zeiten, in denen das „unternehmerische Selbst“ (Ulrich Bröckling) im Mittelpunkt der Gesellschaftsanalysen stand. Und auch heute noch scheinen liberale Denker wie David Goodhart den Schuss noch nicht gehört haben, wenn sie zwischen „somewheres“ und „anywheres“ unterscheiden, zwischen Menschen, die in ihrer lokalen Kultur verwurzelt sind, und jenen globalen Eliten, die sich überall zu Hause fühlen. Mit diesem eher verächtlichen Blick auf einen großen Teil der Gesellschaft wird der antiliberale Affekt, den insbesondere die rechtspopulistischen Bewegungen schüren, sicher nicht überwunden.

Gemeinsinn stärken

Müllers Forderung nach mehr Gemeinsinn und Solidarität mit denjenigen, die in ihrer existenziellen Lebenssituation bedroht sind, weist daher durchaus in die richtige Richtung. Der Reiz seines Vorschlages eines erneuerten Liberalismus liegt zweifellos darin, dass mit der Furcht die Freiheit nicht aus dem Blick gerät. Jeder Mensch, so Judith Shklar, sollte in der Lage sein, ohne Furcht so viele Entscheidungen über sein Leben fällen können, wie mit der gleichen Freiheit eines jeden anderen Menschen vereinbar ist. Ein Satz, den auch Immanuel Kant formuliert haben könnte – oder Rosa Luxemburg.

Ein Begriff, der in Müllers Buch stets präsent ist, aber ungenannt bleibt, ist: Sozialismus. Denn all die Probleme, die Müller aufwirft und die mit den herkömmlichen liberalen Theorien nicht gelöst werden beziehungsweise keine überzeugende Antwort auf die Herausforderung des Rechtspopulismus geben können, stellen sich aus einem anderen Blickwinkel für einen aufgeklärten Sozialismus, wie ihn beispielsweise Axel Honneth skizziert hat, gleichermaßen. Ist es Zeit für die Konvergenz freiheitlicher und solidarischer politischer Theorien?

Den Einzelnen sichern

Denn die Aufgabe, vor der wir angesichts der von uns verursachten globalen Klimakrise gestellt sind, definiert Bedürfnisse nach Sicherheit, Schutz vor Gewalt und Not, nach individueller Freiheit und Selbstverwirklichung sowie die Vorstellungen von Wohlfahrt und Gemeinwohl gänzlich neu. Mehr denn je sind wir gefordert, um die Freiheit und das Leben ohne Furcht des Einzelnen zu sichern, global und kollektiv zu denken.

Antiliberalismus, so argumentiert Müller zu Recht, führt zu Antipluralismus und Abbau von Demokratie. Auf das Recht von Menschen, Rechte zu haben, wie es Hannah Arendt formuliert hat, können wir nicht verzichten, wenn wir selbstbestimmt und frei leben wollen. Insofern weist Müllers kluges Buch über seinen Rahmen eines Plädoyers für einen anderen Liberalismus hinaus auf eine politische Theorie, die unsere gemeinsame Verantwortung für die Gesellschaft wie für den Planeten in den Mittelpunkt stellt.

Jan-Werner Müller: Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 171 S., 16 €.

Michael Wildt

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