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Kinderbuchautorin: „Meine Enkelin speit, wenn sie zur Schule muss“

Sollen alte Kinderbücher politisch korrekt umgeschrieben werden, Frau Nöstlinger? Ein Gespräch über Antisemitismus, Hausfrauenrolle und ehrgeizige Eltern.

Von Barbara Nolte

Christine Nöstlinger, 76, hat mehr als 100 Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Sie schuf vielgeliebte Figuren wie „Die feuerrote Friederike“, „Gretchen Sackmeier“, „Olfi Obermeier“ und „Bohnen-Jim“. Nöstlinger hat zwei Töchter und zwei Enkelinnen. Sie lebt in ihrer Geburtsstadt Wien.

Frau Nöstlinger, was halten Sie davon, dass Kinderbuchklassiker politisch korrekt umgeschrieben werden?

Beispielsweise soll eine Textstelle aus Otfried Preußlers Buch „Die kleine Hexe“ verändert werden, in der sich Kinder als „Neger, Chinesenmädchen und Türke“ verkleiden.

Ein Unfug! In Erwachsenenliteratur würde man nie so reinpfuschen. Das zeigt, dass Kinderliteratur für viele nicht mehr ist als eine Pädagogikpille, eingewickelt in Geschichterlpapier.

Nicht nur Schwarze empfinden das Wort „Neger“ als schwere Beleidigung. Was wäre so schlimm daran, wenn man ganz pragmatisch dieses eine Wort austauscht?

Mir würde es reichen, wenn man das Wort mit einem Sternchen versieht und am Fuß der Seite erklärt, dass es vor 50 Jahren ein normaler Ausdruck war. Rassismus ist eine Gesinnung, die schafft man nicht ab, wenn man Worte abschafft.

Der in Polen lehrende Germanist Lothar Quinkenstein wirft jetzt auch Ihnen vor, in Ihrem Buch „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ antisemitische Ressentiments zu bedienen. Er nimmt Anstoß am Namen der Gurkenkönigs, Kumi-Ori. Den schildern Sie als einen von seinem eigenen Volk verjagten Despoten, der fortan eine Familie tyrannisiert. Kumi-Ori ist ein hebräisches Wort. Wussten Sie das?

Ja, klar. Ich stieß auf das Wort in einem Gedicht von Paul Celan und ließ es mir von meiner Freundin Mira Lobe, die Jüdin war, übersetzen ...

... Mira Lobe war ebenfalls Kinderbuchautorin, sie ist mittlerweile verstorben.

Sie sagte mir, dass es „erhebt euch“ hieß. Das gefiel mir: Ein Tyrann, gegen den sich sein Volk erhoben hat, heißt „erhebt euch“. Das war mein Privatwitz. Ich habe es meinen Lesern gar nicht erklärt.

Kumi-Ori bedeutet außerdem Jerusalem. Quinkenstein schreibt den Buchtitel um in „Wir pfeifen auf Jerusalem“. Als weiteren Verdachtsmoment führt er ihr Geburtsdatum an: 1936.

Das ist so was von lächerlich.

Sie haben zwei autobiografische Bücher über das Kriegsende und die Nachkriegszeit geschrieben, in denen sie sich eindeutig gegen die Nazis positioniert haben.

Es waren ganz furchtbare Zeiten, das Duckmäusertum war sehr verbreitet. Meine Elternhaus, das waren keine Nazis, im Gegenteil. Meine Großmutter hat dauernd auf den Hitler geschimpft, und zwar sehr laut, weil’s schwerhörig war. Und schwerhörige Leut’ reden manchmal sehr laut. Da habe ich immer wieder gehört, dass die Leute gesagt haben: „Frau Göth, Frau Göth, reden Sie sich nicht um Ihren Kopf! Sie werden noch ins KZ kommen.“ Aber sie kam nicht ins KZ.

Empfanden Sie als Kind eine Faszination für den Nationalsozialismus?

Überhaupt nicht. Ich hatte eine fünf Jahre ältere Schwester, die sollte zum BDM gehen, ging aber nicht hin. Da kamen immer zwei so jungsche Anführerinnen und haben meiner Mutter Vorhaltungen gemacht. Meine Mutter hatte nie gesagt: „Ihr seids mir zu deppert, mei’ Tochter geht da nicht hin.“ Sondern sie hatte immer irgendwelche Ausreden, die die nicht geglaubt haben.

Sie verfolgen mit Ihren Büchern einen emanzipatorischen Ansatz.

Ich halte es mit dem Tucholsky, der einmal gesagt hat: „Mit zehn Fingern auf der Schreibmaschine lässt sich die Welt nicht verändern.“ Man kann flankierende Maßnahmen setzen.

Ihre Geschichten sind geprägt vom linksalternativen Geist der 70er Jahre. Sie sind bevölkert von Erwachsenen, die oft verwirrt sind von den gesellschaftlichen Umbrüchen, und sie werden erzählt aus der Perspektive eigensinniger Kinder dieser Zeit.

Ich habe da einen Trick: Die Kinder in meinen Büchern können besser formulieren, als ein Kind in dem Alter das realistischerweise kann. Das tue ich, damit ich mich, erstens, beim Schreiben auch ein bisschen unterhalte. Wenn mir eine pointierte Formulierung einfällt, schreibe ich sie halt hin. Und zweitens erzeugt das bei Kindern einen, nennen wir es: Aha-Effekt. Ich formuliere etwas, was Kinder spüren, aber nicht ausdrücken können.

Von Beruf sind Sie Grafikerin.

Ich hatte Grafik studiert, weil ich das Pech hatte, in ein Gymnasium zu gehen, in dem kaum einer zeichnen konnte, und ich konnte es halbwegs. So hatte es immer geheißen, ich sei ein Zeichentalent. Das hört man natürlich gern. Im Studium waren andere wesentlich besser, habe ich gefunden.

Haben Sie in Ihrem Beruf gearbeitet?

Kurz, in einem Werbebüro. Als meine erste Arbeit sollte ich ein Plakat für eine Handwaschcreme für Arbeiter machen. Ich hätte auf ein sechs Meter breites und drei Meter hohes Plakat zwei Männerhände malen sollen, die sich waschen, und dabei steigt der Schaum auf. Na also, bitte! Ich bin nicht mehr hingegangen, habe mich tot gestellt, weil ich es einfach nicht hingekriegt hätte.

Stattdessen wurden Sie Hausfrau?

Jawoll! Es gab Ende der 50er Jahre keine effiziente Verhütung, und keusche Jungfrau war man auch nicht mehr, und dann warst’ plötzlich schwanger, und was war damals üblich? Man musste heiraten, schon bist du in dieser Hausfrauenfalle gesessen.

In Deutschland wird die Hausfrauentätigkeit gerade rehabilitiert. Wenn Frauen ihre Kinder zu Hause betreuen, statt sie in eine Kita zu geben, bekommen sie künftig 150 Euro vom Staat. Konnten Sie der Rolle etwas abgewinnen?

Nein, ich war zutiefst unzufrieden. Irgendwann hatte ich die Idee, ein Kinderbuch zu schreiben. Wenn ich keinen Verlag gefunden hätte, hätte ich nicht weitergemacht. Dann hätte ich gedacht: „Das kannst du also auch nicht.“

Waren Ihre Töchter Testleser Ihrer Bücher?

Nein, das wäre eine Unverschämtheit gewesen.

Kinderarbeit.

Wie hätten die urteilen sollen? Ich war ja eine nette Mama. Sie hätten mich nicht kränken wollen. So was kann man von seinen Kindern nicht verlangen.

Hatten Sie als Schriftstellerin Vorbilder: Astrid Lindgren, Otfried Preußler?

Mein Gott, Vorbilder. Den Preußler schon überhaupt nicht. Ein schrecklich konservativer Mensch. Über seine Bücher will ich nicht urteilen, aber bei Tagungen in den 70ern war er immer beleidigt, dass es linke Strömungen gab. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung, da war der Preußler im Publikum mit seiner Frau und zwei Töchtern. Lauter große, germanische Typen. Auf der Bühne saß ein Linker, der ein Buch mit dem Titel „Schlachtet die blauen Elefanten“ geschrieben hatte. Es richtete sich gegen Kinderliteratur mit fantastischen Elementen. Das sei eine Fluchtliteratur. Der Preußler hat sich so aufgeregt, dass er zusammengebrochen ist. Da haben die drei Frauen ihn rausgetragen.

Heile Familien kommen bei Ihnen nicht vor. Die Eltern von Gretchen Sackmeier und Ilse Janda, die zu Ihren bekanntesten Figuren zählen, trennen sich oder sind längst getrennt.

Ja, aber der Scheidungskrieg hält sich in meinen Büchern in Grenzen. Ich kenne Fälle, die sind so trist, die will ich meinen Lesern nicht zumuten.

Heute zählen fast alle erfolgreichen Kinderbücher zum Fantasy-Genre. Ist das für Sie Fluchtliteratur?

Überhaupt nicht. Fantasie ist erlaubt. Die Debatten sind Schnee von gestern. Damals wollte man mit Kinderliteratur noch etwas: Kinder sollten anders aufwachsen. Heute gilt ein Kinderbuch als gut, wenn es sich gut verkauft.

Elke Heidenreich betont immer wieder, wie wichtig das Lesen ist. Es klingt so besserwisserisch.

Dümmer wird man durchs Bücherlesen jedenfalls nicht. Für mich kann Literatur, im besten Fall, ein Stück Welt in Sprache umsetzen, und wenn ich durchs Lesen fähig gemacht werde, ein Stück Welt vernünftiger zu sehen, kann das nicht schaden.

In Ihren Büchern sind häufig die Mädchen die Protagonisten. Deren besten Freunde sind jedoch Jungs.

Das hat aber auch damit zu tun, dass man beiden Geschlechtern eine Identifikationsfigur geben will. Kinderbücher, auch Jugendbücher muss man ja aus der Sicht eines Helden schreiben. Ganz zu Anfang habe ich einmal ein Buch geschrieben, es heißt „Der Spatz in der Hand“. Es ging mir damals auf die Nerven, dass Kinderbuchhelden zwar manchmal frech, letztlich jedoch immer edle Menschen waren. Nur, die Leser haben auch ungute Eigenschaften – und ich dachte, es müsste erleichternd für sie sein, wenn sie eine Geschichte von einem Kind lesen, das nicht ganz so edel ist.

In „Der Spatz in der Hand“ geht ein Mädchen ziemlich fies mit einem Jungen um.

Die Kinder haben das Buch nicht gemocht. „Die ist nicht gut, die ist ja bös“, haben sie gesagt. In einer Schulklasse habe ich auch mal geantwortet: „Na, seid’s nicht auch a bissel so?“ – „Oja“, haben sie gesagt. Und dann gaben sie mir den Ratschlag, sie wollen so jemanden nicht als Hauptfigur haben. Ich soll ein Buch schreiben, wo so ein Mädchen schon vorkommt, aber nur als Freundin der Hauptfigur.

Identifizieren sich Jungs und Mädchen eigentlich nur mit Figuren des eigenen Geschlechts?

Meine Erfahrung ist, dass es Mädchen wurscht ist, ob der Protagonist eines Buches ein Mädchen oder ein Junge ist. Jungs hingegen lesen nur Bücher über Jungs. Es gibt eine nette Geschichte von einer Bibliothekarin: Es kam immer ein Bub zu ihr, elf Jahre alt, der hat immer ein Abenteuerbuch für sich und ein Mädchenbuch für seine Schwester verlangt. Irgendwann war der Bub krank, die Mutter kam in die Bibliothek. Die Bibliothekarin fragte: „Ein Abenteuerbuch und für die Schwester wieder ein Mädchenbuch?“ Sagt die Mutter: „Na, ich hab nur den Buam.“

In der Bibliothek einer Berliner Schule steht an den Regalen „für Jungs“ beziehungsweise „für Mädchen“. In Zeiten des Gendermainstreamings erscheint das völlig unzeitgemäß.

Aber es entspricht der Praxis. Meine Tochter und mein Schwiegersohn haben sich wirklich bemüht, ihre Tochter und ihren Sohn in keine Rollen hineinzudrängen. Dennoch kannte der Nando alle Automarken, bevor er Farben auseinanderhalten konnte, und die Nette stand auf Rosa. Es ist ja auch nicht besonders gravierend: eine komische Phase, und ein paar Jahre später schreit die Enkeltochter, wenn sie Rosa sieht: „Pfui!“

Frauen sind auch heute noch fast immer für die Kindererziehung zuständig. Wie war es bei Ihnen?

Mein Mann hat sich aufgeführt wie der gute Onkel, hat aber selbst nie eingegriffen. Er hat mir erklärt, dass er nicht wisse, wie Vatersein geht, weil er als Vorbild nur seinen eigenen Vater habe, und so wolle er bei Gott nicht sein. Er hatte für alles Verständnis, was die Kinder taten. Doch wenn Probleme auftraten, sagte er: „Und was tust du jetzt?“

Die Erziehung wird immer aufwendiger. Viele Kinder werden heute früh gefördert, weil die Eltern Angst haben, dass sie sonst nicht in der globalisierten Welt bestehen können.

Ich verstehe überhaupt nicht, warum man einem Kind Chinesisch beibringen muss. Selbst wenn intelligente Kinder in der Schule unterfordert sind, können sie dort soziale Kompetenzen mitkriegen. Wenn einem Kind langweilig ist, könnte eine bemühte Lehrerin es darum bitten, das Gelernte dem Nachbarn beizubringen.

So was Ähnliches passiert an den Schulen in Berlin. Zwei bis drei Klassenstufen werden dort gemeinsam unterrichtet. Auch dieses Modell hat Nachteile – häufig ist es im Unterricht sehr unruhig.

Lehrersein ist sicher nicht leicht. In den 70ern gab es Untersuchungen, bei denen man festgestellt hat, dass es völlig wurscht ist, wie ein Lehrer vorgeht. Das Einzige, was er braucht, ist Charisma. Nur gibt es nicht so viele Lehrer mit Charisma, um damit flächendeckend alle Schulen zu bestücken.

Was halten Sie von der Reformpädagogik, praktiziert an der Summerhill-School des Pädagogen A. S. Neill, in der Kinder ohne Zwänge lernen?

Die Ideen sind mir sympathisch, dennoch bleibe ich skeptisch. Neill sagte ja, dass Schule einen Menschen besser zu einem glücklichen Straßenkehrer machen solle als zu einem neurotischen Gelehrten. Ich bezweifle, dass es in unserer Gesellschaft einen glücklichen Straßenkehrer gibt.

Sie hatten Ihre Mädchen an staatlichen Schulen. Waren Sie zufrieden?

Ich mag Schule nicht. Mir taten meine Töchter leid, wenn sie hingehen mussten. Mir tut auch meine Enkeltochter leid, die sich pünktlich jeden Morgen übergibt, bevor sie in die Schule geht.

Das ist ja schrecklich.

Am Samstag und am Sonntag speit sie nicht. Das Elternhaus übt keinen Leistungsdruck aus. Ein gewisser Druck, dass du in der Schule bestehen musst, ist immer vorhanden. Nur kenne ich kein anderes Schulmodell, das in einer Massengesellschaft funktionieren würde. Man muss die Schule halt irgendwo überstehen.

Betreuen Sie Ihre Enkel häufig?

Nein, sie leben in Belgien.

Vermissen Sie die Großmutterrolle?

Nein. Ich merke, wie sehr ich andere Leute liebe, wenn es denen schlecht geht. Dann erst spüre ich, dass da furchtbar viel Emotion in mir drin ist. Dann will ich alles tun, dass es denen besser geht. Aber meinen Enkeln geht es eh gut, außer dass die Nette speit, und das lässt sich nicht verhindern.

Ihr Mann starb vor zwei Jahren. Zuvor hatte er einen Schlaganfall. Haben Sie ihn gepflegt?

Nein, der war leider Gottes nicht mehr selber zu pflegen. Mein Mann war völlig gelähmt, der konnte bloß noch eine Hand bewegen.

Sie waren oft bei ihm im Krankenhaus.

Ungern. Es ist schrecklich, wenn ein Mensch einem durch Blicke und Gesten zu verstehen gibt, dass er nicht mehr leben will und dann doch noch zweieinhalb Jahre leben muss. Mein Mann hatte zwar eine Patientenverfügung, doch die betrifft ja nur lebenserhaltende Maßnahmen, und die wurden ohnedies nicht gesetzt.

Wo haben Sie Trost gefunden – in der Kirche?

Ich bin so was von kirchenfern. Die Werte, die mir heilig sind, haben wir seit der Aufklärung. Die reichen mir.

Schreiben Sie noch?

Weniger als früher. Manchmal umschleiche ich den Computer, als ob er mein Feind wäre. Dabei hat mir das Schreiben immer mehr Spaß gemacht als der Rest vom Leben.

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