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Das offizielle Foto von 2004 zeigt Kaiser Akihito und Kaiserin Michiko mit dem künftigen Kaiserpaar Naruhito (li.) und Masako (re. vorn).

© picture-alliance/ dpa / dpaweb

Japan vor einer ungewissen Zukunft: Hochbetagt im Supermarkt

Wieland Wagner staunt über ein Land, das sich mit seinem allmählichen Abstieg abfindet

Wenn Kaiser Akihito am 30. April von seinem Amt zurücktritt, beginnt nach japanischer Zeitrechnung eine neue Ära – Reiwa, was etwa so viel wie bedeutet „Ordnung“ und „Frieden“ oder „Harmonie“, ganz eindeutig ist das von der konservativen Regierung vorgegebene Motto nicht. Was unter dem künftigen Kaiser Naruhito im neuen Jahr Reiwa 1 kommen wird, ob sich mit dem Wechsel im Kaiserhaus wirklich in Japan etwas ändert, wird man sehen. Mit der Abdankung von Kaiser Akihito – der ersten eines japanischen Kaisers zu Lebzeiten nach mehr als 200 Jahren – endet die 30-jährige Ära Heiwei, was so viel wie „Frieden schaffen“ bedeutet. Zeit, Bilanz zu ziehen.

Das unternimmt Wieland Wagner in seinem klugen Buch „Japan. Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt“. Seine Beschäftigung mit Japan – vom Doktoranden der Geschichte, der 1985 nach Japan reist, bis zum Abschied als „Spiegel“-Korrespondent – umfasst eine sogar noch längere Zeitspanne als die Regierungszeit Kaiser Akihitos. Wagner lernt Japan zu einem Zeitpunkt kennen, als der Westen das Land fürchtet wie heute China – eine aufstrebende Wirtschaftsmacht, die im Westen als Bedrohung wahrgenommen wird, eine Nation, die eine technische Innovation nach der anderen hervorbringt.

Eigene familiäre Erfahrungen

Wagner ist von Japan von Anfang an fasziniert. Sein Buch mischt persönliche Erfahrungen – er ist mit einer Japanerin verheiratet, seine Kinder sind in Tokio geboren – mit der politischen Analyse dessen, was in und mit Japan geschehen ist. Als er 2014 nach zehn Jahren in China nach Japan zurückkehrt, wird ihm schlagartig bewusst, wie sehr die japanische Gesellschaft gealtert ist. „Allenthalben sah ich hochbetagte Menschen, die arbeiteten, oft noch spätabends: an der Hotelrezeption, in den Taxis, in den Supermärkten (…). Selbst viele Junge sahen alt und müde aus“, notiert er und vermisst bei ihnen trotz allen Wohlstands Lebensfreude und Hoffnung, was er in China und Indien noch bei den Ärmsten beobachten konnte.

Der Japan-Kenner kehrt in ein Land zurück, das alles erreicht hat, das einen wirtschaftlichen Höhenflug bis Mitte der achtziger Jahre erlebt hatte, aber dann von 1989 an – dem Jahr der Thronbesteigung Kaiser Akihitos – wirtschaftlich und politisch stagniert. Hinzu kam 2011 die Katastrophe von Fukushima. „Das Desaster zerstörte auch den Mythos der technischen Überlegenheit, an den die Nation geglaubt hatte“, urteilt Wagner: „Und es untergrub das Vertrauen in den Staat, der sich als erschreckend unfähig erwies.“

Der Mythos zerstob

Als Ministerpräsident Abe 2012 gewählt wird, macht er die Atomenergie wieder hoffähig und verspricht, „Japan wiederherzustellen“. Ein Dialog über die Folgen von Fukushima fand nicht statt, von einer Energiewende à la Deutschland ganz zu schweigen. „Fukushima steht dafür, wie eine große Nation die Gelegenheit verpasst, sich von Grund auf zu reformieren (...), auch durch tiefgreifende Veränderungen in Politik, Verwaltung und Gesellschaft.“

Im Prinzip hatte Japan diese Gelegenheit schon 1989 verpasst, als nach dem ungehemmten Wirtschaftswachstum – Wagners Kommilitonen in Tokio spekulierten selbst an der Börse – die Blase platzte und Stagnation einsetzte. Sie wurde verschärft durch die beginnende Globalisierung und das Ende des Kalten Krieges. Dem Land, das früher den Westen nachgeahmt hat, fehlten nun die Vorbilder, es hatte alles erreicht. „Es müsste nun selbst den nächsten Schritt tun und eine neue Ära des sogenannten postindustriellen Zeitalters beginnen“, schreibt Wagner. Japan hätte das erste kapitalistische Land sein können, das die Krise als Chance für radikales Umdenken und nachhaltigeren Umgang mit Ressourcen betrachtet, doch diese Vision war und ist nicht zu erkennen. Wozu diese Trägheit führt, können Deutschland und Europa am Beispiel Japans studieren.

Jugendliche unter Leistungsdruck

Anschaulich schildert Wagner die schrumpfende Gesellschaft, besucht Orte, in denen kaum noch Menschen leben, geschweige denn junge. „Yubari“ ist der terminus technicus für den Rückbau der Städte, es bedeutet so viel wie „kompakte Stadt“. Die Verknappung der Ressourcen hat unerwartete Nebenwirkungen: Die Menschen leben gesünder, sie müssen mehr auf sich achten, sie beugen vor. Dadurch sinkt die Sterberate – die Gesellschaft altert immer weiter. Gleichzeitig setzt sie verstärkt auf Robotik, um fehlende Arbeitskräfte zu ersetzen. Firmen müssen schließen, weil es keine Nachfolger für ihre Chefs gibt – dadurch geht dem Land erhebliches Fachwissen verloren.

An Beispielen aus seinem Bekanntenkreis zeigt Wagner, wie Japans Jugendliche vor der Zukunft kapitulieren, wenn sie feststellen, dass der immense Leistungsdruck, dem sie in Schule und Universität ausgesetzt sind, sich am Ende nicht auszahlt und es für sie keine Perspektive gibt. Sie ziehen sich zurück und verweigern sich der Gesellschaft.

Verspätete Nation?

Wagner hilft unserer Unkenntnis mit einer tour de force durch die japanische Geschichte über die verspätete Nation nach, deren wirtschaftliche und militärische Modernisierung von oben verordnet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde hart gearbeitet, ausländische Produkte wurden kopiert, und so erlebte Japan einen kometenhaften wirtschaftlichen Aufstieg. Zum Ideal wurde der Angestellte, der ein Leben lang seiner Firma treu blieb. Konsumgüter wurden zum Statussymbol. Wegen seiner starren hierarchischen Strukturen hat Japan aber die Digitalisierung verschlafen, es fehlte der Raum für Individualität und Kreativität. Es ist in Wagners Augen tragisch, dass ausgerechnet der Rücktritt des Kaisers nicht als Weckruf für dringende grundlegende Reformen erkannt wurde.

Wieland Wagner: Japan – Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2018. 256 S., 20 €.

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