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Der indische Eremit Mahant Naomi am Ufer des Ganges

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Indien: Land im Widerspruch

Amartya Sens und Jean Drèzes Buch über Stärken und Schwächen Indiens. Eine Rezension

Sie sind ein eingespieltes Team: der in Harvard lehrende Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen und sein Schüler Jean Drèze. Zusammen haben sie bereits mehrere stark beachtete Werke zu Fragen von Armutsbekämpfung und Entwicklung verfasst („Hunger and Public Action“, 1989; „India: Development and Participation“, 2002). Nun befassen sie sich mit Indien, wo Drèze seit 1979 lebt und als Visiting Professor an der Allahabad University lehrt. Ihr Buch erscheint in einer Zeit, in der Indiens Gesellschaft wie Politik stark in Bewegung geraten sind, wie sie zu Beginn betonen: In ausgiebigen Debatten würden die politischen Prioritäten des Landes erörtert. Die an diesen Diskussionen Beteiligten seien ebenso zahlreich wie die vertretenen Standpunkte: Es gehe um Korruption, Behördenversagen, die Todesstrafe, Gewalt gegen Frauen oder Fragen demokratischer Reformen. Auch die wirtschaftlichen Erfolge und Fehlschläge Indiens seien Gegenstand leidenschaftlicher Stellungnahmen.

Das asiatische Modell wirtschaftlicher Entwicklung

Eine solche Fülle kritischer Fragen und Diskussionen, gefördert durch eine dynamische Medienlandschaft und robuste demokratische Institutionen, ist auch in den Augen von Drèze und Sen an sich eine große Stärke eines Landes. Doch weisen sie darauf hin, dass all dies in Indien durch eine gewisse Einseitigkeit in der öffentlichen Debatte beeinträchtigt werde, da vornehmlich Leben und Belange relativ privilegierter Menschen in den Blick genommen würden, und auch derer, die nicht ganz oben stünden, aber im Vergleich zur Mehrheit der indischen Bevölkerung zweifellos privilegiert seien, sei es durch Wohlstand, Ausbildung, den Zugang zu medizinischer Versorgung, kulturelle Ressourcen oder ihre gesellschaftliche Stellung. Fragen hingegen, die das Leben – sogar das Überleben – von grundsätzlich benachteiligten Menschen berührten, werde bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Eben hier setzen nun Drèze und Sen an. Wie bereits in ihren früheren Studien plädieren sie dafür, Entwicklung dadurch angezeigt zu sehen, wie sie die grundlegenden Freiheiten der Menschen und ihre Verwirklichungschancen erweitert. Mit dieser Sichtweise unterstreichen sie die Bedeutung, die der Wechselbeziehung zwischen Wirtschaftswachstum und der Entfaltung menschlicher Verwirklichungschancen zukommt. Dabei mahnen sie, nicht zu vergessen, dass die Erweiterung menschlicher Freiheit und Verwirklichungschancen der Zweck sei, dem – neben anderen Faktoren – das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes als ein wichtiges Mittel diene.

In der Tat schafft Wachstum die Ressourcen, die es ermöglichen, öffentliche oder private Anstrengungen systematisch zu mobilisieren, um Einrichtungen in den Bereichen Bildung, Gesundheitsvorsorgung, Ernährung oder Sozialem ebenso wie andere unverzichtbare Grundlagen eines in einem umfassenden Sinn freieren Lebens für alle auszubauen. Und umgekehrt – auch da gibt Drèze und Sen die Geschichte sich erfolgreich entwickelnder Gesellschaften recht – macht die Erweiterung menschlicher Verwirklichungschancen wiederum Ressourcen und Produktion fruchtbarer, wovon Wirtschaftswachstum letztlich abhängt.

Amartya Sen, Jean Drèze: Indien: Ein Land und seine Widersprüche. C. H. Beck Verlag, München 2015. 376 Seiten, 29,95 Euro.
Amartya Sen, Jean Drèze: Indien: Ein Land und seine Widersprüche. C. H. Beck Verlag, München 2015. 376 Seiten, 29,95 Euro.

© C.H.Beck

Die starke Wirkung dieser Wechselbeziehung lässt sich nicht zuletzt in Indiens Nachbarschaft beobachten. Sie ist ein wesentliches Merkmal des sogenannten asiatischen Modells wirtschaftlicher Entwicklung. Seine Anfänge reichen bis in das Japan nach der Meiji-Restauration Ende des 19. Jahrhunderts zurück, schrittweise fortgesetzt in Ländern wie Südkorea, Taiwan und Thailand, bis schließlich China bei der Steigerung des Wirtschaftswachstums wie auch der Erweiterung menschlicher Verwirklichungschancen weltweit an die erste Stelle rückte. Vor diesem Hintergrund halten Drèze und Sen es zu Recht für eine Illusion, Indien könne zu einer wirtschaftlichen Supermacht aufsteigen, ohne zugleich seine elementaren Herausforderungen wie die gewaltige Zahl unterernährter Kinder, das Fehlen eines ausreichenden Gesundheitssystems oder eines immer noch extrem defizitären Schulwesens zu lösen. Sie weisen damit auf einen weiterhin bestehenden Widerspruch Indiens hin, dessen Aufhebung der Schlüssel zur weiteren Entwicklung des Landes sein dürfte. Damit wird auch ihr neues Buch zu einem Schlüssel zum Verständnis des heutigen Indien.

– Amartya Sen, Jean Drèze: Indien: Ein Land und seine Widersprüche. C. H. Beck Verlag, München 2015. 376 Seiten, 29,95 Euro.

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