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Das „Haus der Regierung“ an der Moskwa im Jahr 2018 – heute eine teure Wohnadresse.

© Bernhard Schulz

In Stalins Terror vernichtet: Gläubig gingen sie zugrunde

Yuri Slezkine erzählt die Geschichte des Stalinismus am Schicksal der Bewohner des „Hauses der Regierung“.

In einer 1929 veröffentlichten Erzählung des großen, alsbald in der Sowjetunion geächteten Andrej Platonow kommt der Bauer Makar nach Moskau. „Er ging zum Fluss und erblickte die Baustelle eines ungeheuren Hauses. ,Was wird hier gebaut?’, fragte er einen Passanten. ,Ein ewiges Haus aus Eisen, Beton, Stahl und hellem Glas!’, antwortete der Passant. Makar beschloss, auf der Baustelle vorzusprechen (...).“

So beginnt Yuri Slezkine die Geschichte des „Hauses des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare“, bald nur „Haus der Regierung“ genannt, gelegen am Ufer der Moskwa schräg gegenüber dem Kreml. Als der Komplex 1931 fertiggestellt wurde, zählte er 550 Wohnungen in elf um drei Höfe angeordneten Wohntrakten von acht bis elf Stockwerken, dazu das Kino „Stoßarbeiter“ mit 1500 und ein Theater mit 1300 Plätzen sowie alle nur denkbaren Gemeinschaftseinrichtungen von der Kantine bis zum Kinderhort. Hier zog ein, wer im Sowjetstaat zur Elite zählte, Parteiführer, Wissenschaftler, Fliegerhelden und Geheimdienstoffiziere.

Im "Haus am Ufer" wohnte die Elite

Der autobiografische Roman von Juri Trifonow aus dem Jahr 1976 machte das Gebäude unter dessen Buchtitel „Das Haus am Ufer“ bekannt; deutsch als „Haus an der Moskwa“. Seither weiß man auch hierzulande, dass diese riesige Wohnburg eine düstere Geschichte birgt: Von ihren mächtigen und stolzen Erstbewohnern ging die Mehrzahl der Hauptmieter, nachweislich 344, im Großen Terror der Jahre 1936-38 zugrunde, die Ehefrauen oft ebenfalls, wurden ihre Familien ausquartiert – wie diejenige Trifonows – oder tausende Kilometer entfernt in die Verbannung verschickt und die zu Waisen gemachten Kinder in Heime gesteckt.

Anhand des Hauses am Ufer – des „Ewigen Hauses“ des hellsichtigen Platonow – lässt sich die ganze Geschichte der Sowjetmacht bis zu ihrem Höllensturz des Großen Terrors und darüber hinaus erzählen – das ist der Grundgedanke des1956 in der Sowjetunion geborenen, in Berkeley lehrenden Historikers Yuri Slezkine, die er in seinem monumentalen Buch „Das Haus der Regierung“ ausführt. „Die Aufgabe des Architekten der kommenden Ära“, zitiert er einen Aufsatz von 1929, „ist es nicht, ein Haus zu bauen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse und produktiven Funktionen in der Form von Gebäuden zu ,bauen’ oder zu ,gestalten’.“ Es ist diese Analogie von Haus und Sowjetstaat, die der Autor ertragreich verfolgt.

Aber wie! Slezkine hat eine historische Darstellung verfasst, doch zugleich eine Literaturgeschichte und zudem einen Roman, gespeist aus den erstaunlich zahlreichen Aufzeichnungen, Briefen und Memoiren von Zeitzeugen aus dem Auge des Taifuns, den der Diktator Stalin und seine Mordhelfer über das Haus und die ganze Sowjetunion hinwegfegen ließen. Ein Epos also oder, wie der Autor es nennt, „eine Saga der Russischen Revolution“, womit er andeutet, dass die Revolution von 1917 weit länger andauerte – Slezkine spricht von „Wiederkehr“ –, bis sie ihre Protagonisten selbst verschlang. 1344 Seiten umfasst das Epos in der deutschen Fassung der im vergangenen Jahr erschienenen Originalausgabe, und der Rezensent müsste lügen, wollte er behaupten, er habe das Buch ganz und vor allem von vorne bis hinten gelesen.

Ein monumentales Buch

Denn es lädt geradezu ein, einzelne Kapitel herauszugreifen und gegen die Ehrfurcht gebietende Einteilung in drei „Bücher“, sechs Teile und 33 Kapitel quer zu lesen. Alles ist mit allem verquickt. Die ersten 400 Seiten sind den Alt-Bolschewiken gewidmet, die die Revolution machen und die junge Sowjetmacht durch die Fährnisse der ersten Dekade steuern. Erst „Buch zwei“ beschreibt „die Rückkehr der Revolution“ in Gestalt des alle Verhältnisse radikal umstürzenden Fünfjahrplans, dazu „den Bau des Hauses der Regierung und der ganzen Sowjetunion“, ehe „Buch drei“ den Terror schildert, im Schicksal der Hausbewohner sowie weiterer, ins unerbittliche Räderwerk des NKWD geratender Parteigrößen.

Stalin-Denkmal in seiner Geburtsstadt Gori (Georgien), aufgenommen im Mai 2018.
Stalin-Denkmal in seiner Geburtsstadt Gori (Georgien), aufgenommen im Mai 2018.

© Bernhard Schulz

Durch alle drei „Bücher“ ziehen sich zugleich drei Erzählstränge: der der einzelnen Personen, den der Analyse der Ideologie und schließlich den der Literatur. Das ist der vielleicht originellste Aspekt des Buches – die ungeheure Lesewut der Bolschewiki, die in der Generation ihrer Kinder nochmals zunimmt. Slezkine hat die Literaturgläubigkeit des Sowjetmenschen geerbt. Alle Ereignisse betrachtet er im Spiegel der Literatur, der gedruckten Bücher wie der verbotenen Manuskripte.

Die Verfolgung der Lebenswege ist eine große Stärke des Buches. Nicht, dass einem die Bolschewiki sympathisch sein müssten; aber in ihrem aus unzähligen Aktenfunden, Verhörprotokollen und Briefstellen rekonstruierten Verhalten, ihren Handlungen und Vergehen gewinnen sie Kontur. In ihrer Gesamtheit verdichten sich die Einzelschicksale zum Epos der ganzen Generation der Ende der dreißiger Jahre vernichteten Revolutionäre.

Eines der dichtesten Kapitel des Buches, „Die ideologische Substanz“, zeigt die vollständige Unterwerfung noch der größten Geister unter die Ideologie des Stalinismus. Sie besteht ausschließlich darin, Stalin – mit den Worten Nikolai Bucharins – als „persönliche Verkörperung des Verstandes und des Willens der Partei“ zu begreifen. Gerade Bucharin, der einstige „Liebling der Partei“, den Stalin in einem mehrjährigen Katz-und-Maus- Spiel auf Weiterleben hoffen lässt, um ihn 1938 doch hinrichten zu lassen, kennt in seiner Selbstkasteiung keine Grenzen. Noch im Gefängnis jubelt er: „Alle grundlegenden, lebenswichtigen Funktionen sind in der siegreichen Erfüllung der großen stalinschen Fünfjahrpläne zur Synthese gebracht worden.“

Es sind solche Zitate, die Slezkine als Beleg dafür beibringt, im Bolschewismus eine messianische, endzeitliche Sekte zu sehen, mit allen zugehörigen Attributen. Die Repressierten, und das erübrigt die Frage nach dem Realitätsgehalt der gegen sie erhobenen, vollständig irrwitzigen und darum umso heftiger geglaubten Anschuldigungen, sollten „weder Schuld noch Unschuld beweisen noch bestimmte Verbrechen gestehen, sondern sich bedingungslos der ewigen Wahrheit unterwerfen“.

Der Autor kann von der "großen Idee" nicht lassen

Es ging darum – darauf will Slezkine hinaus –, das letzte Opfer zu bringen, damit die Wiedergeburt der Menschheit das immerwährende Reich des Sozialismus ermöglicht. Das ist zwar schlüssig argumentiert, aber denkbar fern von heutigen Erklärungsansätzen zu Ursachen und Verlauf des Großen Terrors. Allein schon, weil die soziale Dynamik, die Stalin entfachte und die ihn trug – nicht zuletzt in Gestalt der „technischen Intelligenz“ –, schlichtweg ignoriert wird.

Weil Moses das Gelobte Land nicht betreten durfte, durften es auch die Alt-Bolschewiki nicht? Zu viel der Analogie. Überspitzt gesagt, ist Slezkine ein Häretiker, der, wie alle Häretiker, von der großen Idee nicht lassen kann, die er so wortreich verwirft – von der Parteiideologie, die als Ersatzreligion auftrat, mit Geboten, Jüngern und Gewissensqualen. Und dem Wahn der Großen Säuberung.

Man muss sich die Sekten-These des Autors nicht zu eigen machen, um dennoch aus seinem Buch den größten Gewinn zu ziehen. Denn nie zuvor war ein so umfassender Blick in das Privatleben der Protagonisten möglich, auch der Ehefrauen und Geliebten, die im bourgeoisen Luxus von Maßkleidern schwelgen. Der Alltag der Privilegierten in ihren Mehrzimmerappartements wird bis zum letzten Tischdeckchen aufgeblättert.

Karl Schlögel ging Slezkine voraus

Das „Haus am Ufer“ verkleinbürgerlichte sofort. Und wieder projiziert Slezkine das Haus umstandslos auf die Sowjetunion: „Das Haus des Sozialismus als Wohnhaus mit Familienwohnungen war ein Widerspruch in sich. Das Problem des Bolschewismus bestand darin, dass er nicht totalitär genug war.“ Eine steile These! Sie führt zum Schlusssatz des Buches: „Das sowjetische Zeitalter freilich währte nicht länger als ein Menschenleben.“ Was blieb, war eine Sowjetunion ohne Glauben und ohne Gläubige.

Der Hanser Verlag hat mit der deutschen Ausgabe dieses Monumentalwerks eine glückliche Hand bewiesen. Zu wünschen wäre, dass auch Katerina Clarks bedeutende Kulturgeschichte der dreißiger Jahre, „Moscow. The Fourth Rome“ von 2011, ins Deutsche übertragen würde. Zusammen mit Karl Schlögels atmosphärisch dichtem Blick auf das Hauptjahr der Tschistka, „Terror und Traum. Moskau 1937“, 2008 ebenfalls bei Hanser, läge so eine Trias an Büchern vor, die die Stalinzeit uns Heutigen so gut, als es überhaupt möglich ist, verständlich machte.

Yuri Slezkine: Das Haus der Regierung. Eine Saga der Russischen Revolution. Aus dem Englischen von H. Dierlamm, N. Juraschitz, K. Schuler. Carl Hanser Verlag, München 2018. 1338 S., 49 €.

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