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Im Zweiten Weltrkieg wurde unablässig fotografiert: Alles knipst

Gerhard Paul untersucht die Bildgeschichte des NS-Regimes.

Eher Bilder als Worte werden im kollektiven Gedächtnis bewahrt. „Nach wie vor sind wir von Bildern der NS-Zeit umstellt“, leitet Gerhard Paul sein Buches über die „Visual History des ,Dritten Reiches’“ ein. Als Professor für Didaktik der Geschichte hat er sich jahrzehntelang mit dem „Kosmos dieser Bilder“ beschäftigt, mit Propagandafotos wie mit heimlichen Aufnahmen von Zeitgenossen. 42 Bilddokumente hat er für sein Buch ausgewählt, vom Foto bis zum Plakat, und nach Entstehungsjahren sortiert, von 1932, dem letzten Jahr der Weimarer Republik, bis zum Untergang des Hitlerreichs 1945.

Wer fotografiert, ist Mitwisser

Jedes Bild hat Paul auf seine Entstehungsgeschichte, seinen Gehalt und seinen nachmaligen Gebrauch hin untersucht, und bei etlichen Bildern kann er Veränderungen bis hin zu Verfälschungen nachweisen, die dem jeweiligen Bild eine veränderte Aussage gegeben haben. Die Auseinandersetzung um falsch gedeutete Bilder in der „Wehrmachtsausstellung“ von 1995 ist noch im Gedächtnis.

„Fotografie und Film waren (...) Medien, um auch Fotografen und Amateurfilmer ganz unmittelbar zu Mitwissern und Mittätern zu machen, etwa bei Prangerumzügen, Menschenjagden, Erschießungen usf.“, fasst Paul zusammen – und belegt es auf schockierende Weise. Schockierend deshalb, weil die Diskrepanz zwischen dem furchtbaren Geschehen und der vermeintlich unbeteiligten Beobachtung ins Auge fällt: Unmittelbar vor den Augen der Fotografen, ob offizielle „Bildberichterstatter“ oder einfache Soldaten, vollzog sich die Praxis des NS-Regimes, und das heißt das millionenfache Töten. Oder aber Fachleute der Bildproduktion – wie der Illustrator Hans Schweitzer, der als „Mjölnir“ Hetzplakate ohne Zahl entwarf, oder der Bauhaus-Meister Herbert Bayer, der dem Regime bis weit in die dreißiger Jahre hinein eine „moderne“ Visitenkarte ausstellte – waren zu Diensten an ihren Zeichentischen. Gerhard Paul kommt immer wieder auf die Doppelgesichtigkeit des Regime-Alltags zu sprechen, in der reaktionäre und moderne Elemente nebeneinander existierten. Gerade die Bildsprache berief sich perfiderweise auch auf Bildideen der verfemten Avantgarde. Paul konstatiert, „dass das ,Dritte Reich’ in seinem visuellen Erscheinungsbild und in seinen Lebenswelten vielfältiger und moderner war, als dies der selbst zu einer bildhaften Vorstellung geronnene Begriff der ,Gleichschaltung’ suggeriert.“

Gewalt im Bild

Freilich war’s mit der Vielfalt vorbei, wo es um unmittelbare Gewalt ging; je weiter der Krieg voranschritt, desto brutaler. Dass es Bilddokumente von der tausendfachen Erniedrigung der jüdischen Bürger Wiens nach dem erzwungenen „Anschluss“ im März 1938 gibt, wusste und kannte man; aber es gibt solche auch vom unter den Augen der Wehrmacht verübten Pogrom im ukrainischen Lwiw/Lemberg mit 7000 erschlagenen Juden oder vom Massenterror am Ende des Regimes, als auf den Straßen Galgen errichtet wurden, um der Anarchie in den Trümmerstädten Herr zu werden. Und es gibt die wenigen, schrecklichen und verstörenden Bilder aus Auschwitz.

Vom Foto zum Dokument zur Ikone

Man kennt das vielfach reproduzierte Bild vom Wegbrechen des polnischen Schlagbaums am 1. September 1939 („Der Überfall auf Polen als mediale Inszenierung“). Aber es gibt auch Aufnahmen von der gemeinsamen deutsch-sowjetischen Militärparade in Brest-Litowsk drei Wochen später, wo sich die Befehlshaber Guderian und Krivoshein unter Hakenkreuz samt Hammer und Sichel die Hände reichen. Und es gibt das berühmte Foto einer vermeintlichen „Minenprobe“ im Abschnitt „Aufstieg eines ,Knipserfotos’ zur Ikone des Vernichtungskrieges“. Tatsächlich entstammt das Foto dem Album eines unbekannten Soldaten, das unter dem Titel „Vom Donez zum Don“ die Wehrmachtsoffensive im Sommer1942 in 142 Aufnahmen dokumentiert. Nur ist gerade die vermeintliche „Minenprobe“ ein sorgsam inszeniertes Foto, das das, was es vermeintlich zeigt, gerade nicht zeigen kann: Dann nämlich wäre der Fotograf selbst bei einer solcherart ausgelösten Explosion zerrissen worden. „Die auf dem Foto festgehaltene Szene ist demzufolge militärisch weder funktional noch sinnvoll“, urteilt Paul lakonisch: „Die tatsächliche Praxis sah weit brutaler aus.“

Widerstand im Bild

Frontfotos gab es zu Tausenden, wenn nicht Millionen. Das Regime versprach sich „von den Knipserfotos ihrer Soldaten eine Stärkung des Zusammenhalts zwischen Front und Heimat“. Rarissima hingegen sind die Aufnahmen des jugendlichen Aufbegehrens Hamburger „Swing“-Freunde – sie wurden daraufhin an die Front und in den sicheren Tod geschickt – und vor allem die Aufnahme einer in einer Laubenkolonie versteckten jüdischen Berlinerin, die in ihrem von der Außenwelt hermetisch abgeschirmten Raum mit Tischdecke und Blumenvase traditionelle Gemütlichkeit vorgaukelt.

Das Schlusskapitel beschäftigt sich mit der Inszenierung der Festnahme hochrangiger NS-Funktionäre in Flensburg am 23. Mai 1945, bei der die Herren picobello gekleidet auftraten. In der Tat, um die heimliche Macht der Bilder zu brechen, müssen sie überhaupt erst einmal verstanden werden. Dazu – und zur Analyse der Herrschaftsmechanismen des NS-Regimes – leistet Gerhard Paul einen bemerkenswerten Beitrag.

Gerhard Paul: Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des „Dritten Reiches“. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 528 S. m. 219 Abb., 38 €.

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