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Literatur: Im Rausch der Rebellion

1968 und kein Ende: Drei Neuerscheinungen erinnern (selbst)kritisch an Ungehorsam, Drogen und Widersprüche

Etwas hat sich verändert. Es ist der Ton. Die Bücher zum 40. Geburtstag der 68er sind zu großen Teilen kritisch, selbstkritisch gehalten. Ihre Autoren, die meist auch Akteure der wilden Jahre in der Bundesrepublik waren, begeben sich meist nicht nur auf eine Suche nach den Wurzeln des Aufbegehrens, sie suchen, neben ihren inzwischen landauf und landab gewürdigten positiven Folgen, auch die Ursprünge ihrer problematischen Seiten zu ergründen.

Im Kern findet – und das ist nicht nur bei den hier vorgestellten Büchern von Wolfgang Kraushaar, Reinhard Mohr und Peter Schneider der Fall – eine neue Rezeption der in den wilden Jahren häufig vehement zurückgewiesenen Kritiken an der Studentenbewegung und ihrer Autoren statt. Richard Löwenthal etwa hatte den Studenten in verschiedenen Referaten und Aufsätzen („Romantischer Rückfall“) bereits am Ende der 60er Jahre zugerufen, es sei ein großer Unterschied, von wo aus man die Demokratie kritisiere und Veränderungen einfordere. Wolle man die demokratischen Rechte verteidigen und erweitern sowie die Institutionen der Demokratie verbessern, dann sei das zu begrüßen. Attackiere man jedoch die Demokratie lediglich als eine leere Form, die mehr und mehr mit dem Inhalt eines sich faschisierenden Polizeistaats ausgefüllt werde und zerstört werden müsse, dann sähe er große Gefahren heraufziehen.

Jürgen Habermas hatte mit seinem gegenüber Dutschke erhobenen Vorwurf des „Linksfaschismus“ in eine ähnliche Richtung gezielt. In seinen bereits am Ende der 60er publizierten Aufsätzen mit Titeln wie „Die Scheinrevolution und ihre Kinder“ unterschied er, ganz ähnlich wie Löwenthal, zwischen einer Strategie des zivilen Ungehorsams, die sich auf Aufklärung und die Verbesserung der Demokratie auf der Grundlage ihrer eigenen Werte richte, und einer illusionären und gefährlichen gewaltförmigen Strategie der Revolution, die nicht auf die Verbesserung sondern auf die Zerstörung der Demokratie gerichtet sei.

Unter den 68er-Gedenkautoren ist besonders Wolfgang Kraushaar hervorzuheben. Ihm gelingt es in einem großen Bogen die internationalen – insbesondere amerikanischen – Wurzeln der 68er-Revolte zu charakterisieren und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem deutschen Fall plastisch vor Augen zu führen. Die von Richard Löwenthal und anderen häufig nur am deutschen Fall wahrgenommenen romantischen Züge der Studentenbewegung macht er dabei als Teil ihrer Gemeinsamkeiten in allen westeuropäischen Ländern aus.

Ihren Ausgangspunkt deutet er einleuchtend als die schillernde „Woodstock Nation“, die Vorstellung einer vollkommen befreiten neuen Welt und insbesondere eines sich selbst genießenden Individuums, hier und jetzt und sofort, die insbesondere bei den amerikanischen 68ern eine große Rolle spielte, jedoch weit über den Atlantik hinaus ihre große Fangemeinde fand. Kraushaar skizziert die fließenden Übergänge zwischen nur allzu verständlicher Rebellion gegen überkommene Strukturen und Lebensweisen, utopisch-fantastischen Spielereien und antidemokratischen bis totalitären Experimenten.

Peter Schneider glänzt nicht mit einem großen theoretischen Wurf, ihm ist jedoch das ehrlichste Buch zu 68 gelungen. Schneider hat sein altes Tagebuch aus der Schublade gezogen und diskutiert am eigenen Fall die fließenden Übergänge zwischen moralischer Rebellion, spielerisch-ästhetischen Experimenten und dem Größenwahn antidemokratischer politischer Projekte. Er fasst sein mit vielen bislang nicht erzählten Details aus der Führungsriege des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) gespicktes Buch so zusammen: „Meinen Kindern sage ich: Es ist nötig …, gegen selbst ernannte Herren der Welt und eine feige oder übergeschnappte Obrigkeit zu rebellieren. Aber noch mehr Mut gehört dazu, gegen die Führer in der eigenen Gruppe aufzustehen und zu sagen: Ihr spinnt! Ihr seid verrückt geworden! – wenn ebendies der Fall ist.“

Reinhard Mohr, im Unterschied zu Kraushaar und Schneider kein Zeitzeuge der 68er, legt die Bilanz eines Nachgeborenen vor. Wie viele andere geriet er fasziniert und überfordert zugleich in die Nachwehen der großen Revolte und musste seinen Weg finden, mit ihren Ansprüchen umzugehen. Seine Bilanz lautet trotzdem ganz ähnlich wie die von Schneider und Kraushaar. Über ein Jahrzehnt lang hätten die 68er verzweifelt versucht, das historisch gültige revolutionäre Subjekt zu finden. Sie hätten dabei in rascher Abfolge auf die Arbeiterklasse, die Dritte Welt, Randgruppen und am Ende auch auf die Natur gesetzt. „In Wirklichkeit“, so schließt Mohr sein Buch, „war es ganz einfach. Sie hätten nur sich selbst genauer betrachten sollen. Das revolutionäre Subjekt war – das Subjekt. Vielleicht aber haben sie ja geahnt, dass mit der Freiheit des Einzelnen die Probleme erst richtig anfangen.“

So kritisch und selbstkritisch die hier vorgestellten Bücher sind, ein wesentliches Thema behandeln sie meist stiefmütterlich. Das besondere Charakteristikum der deutschen 68er, die Rebellion der NS-Täterkinder, berühren die Autoren eher am Rande. Das verschlungene Ineinander und Durcheinander von Abnabelung und Kontinuität gegenüber der Eltern- und Großelterngeneration wird im Detail nicht abgehandelt. Wolfgang Kraushaar hat sich hier mit seinen schon älteren Beiträgen zu den nationalen und antizionistischen Ambitionen der 68er, die er in seine Bilanz eingeflochten hat, bislang am weitesten vorgewagt. Im Kern kann man sagen, dass die Geburtstagsreden zu 68 eher auf die Kritiken der 68er zurückgreifen, die ihre pro- und antidemokratischen Motive diskutierten. Die Kritiken der deutschen 68er von Dan Diner, Andrei Markovits oder Martin Kloke, die zusätzlich den Antiamerikanismus, sekundären Antisemitismus und verwandte Phänomene unterstreichen, sind in den diesjährigen Geburtstagsreden noch nicht recht angekommen.

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz. Propyläen Verlag, Berlin 2008. 333 Seiten, 19,90 Euro.

Reinhard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern. Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2008. 238 Seiten, 19,90 Euro.

Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68. Eine autobiographische Erzählung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 365 Seiten, 19,95 Euro.

Martin Jander

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