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Hoffnung auf das Ausbleiben des Krieges: Die Friedensgläubigen

Frederick Taylor betrachtet Briten und Deutsche im Jahr vor dem Kriegsbeginn.

Fehlalarm. Kaum waren die Gasmasken verteilt, wurden sie wieder eingesammelt. Die Gefahr des Kriegs, so glaubten die Briten, sei gebannt. Die amerikanischen Touristen freuten sich. Sie kauften die Masken als Souvenirs.

Und doch: So relaxt, wie das Titelbild von Frederick Taylors Buch suggeriert – sonnenbadende Damen im Liegestuhl, die Augen geschlossen –, sind auch die Engländer damals nicht gewesen. Die Stimmung, die der Historiker beschreibt, war eher von großer Anspannung geprägt.

Kein Jubel in Berlin

Auch die Berliner, so Taylor, brachen angesichts des bevorstehenden Einmarschs in die Tschechoslowakei nicht in Jubel aus, sondern gaben sich verhalten. Der Erste Weltkrieg war gerade mal 20 Jahre vorbei, dessen Horror hatten die Menschen auf beiden Seiten des Kanals nicht vergessen. Ein Bankangestellter aus Swindon berichtet im September 1938, dass seine Kollegen „eine große Faulheit“ im Moment der Angst ergriffen hätte. „,Keine Arbeit außer dem Notwendigsten wird mehr erledigt. Briefe bleiben ungeschrieben, Bücher ungelesen, Theater unbesucht. Denn: Wer weiß, was morgen kommt?’“

„Der Krieg, den keiner wollte“, hat Frederick Taylor sein Buch denn auch genannt, in dem alles auf eben diesen Krieg hinausläuft, immer drängender, immer brutaler auch. Taylors Geschichte beginnt im September 1938, genau ein Jahr vor Kriegsbeginn, mit dem die Erzählung endet. Der britische Untertitel, „A People’s History“, sagt präziser, worum es geht. Ganz neu ist die Idee nicht, Weltgeschichte aus der Perspektive des Volkes zu erzählen; ganz stimmen tut es aber auch nicht. Denn der Historiker beschränkt sich – zum Glück – nicht allein auf den Blick ins Wohnzimmer, so interessant er ist, sondern verschränkt Erlebnisse und Eindrücke der Bürger mit dem, was in der Politik geschieht. Wie in einem Film schneidet er zwischen den Ebenen und den Ländern hin und her, vorzugsweise in Nahaufnahmen.

Zeitzeugen erzählen, Dokumente berichten

Der britische Historiker, selbst ein Nachkriegskind des Jahrgangs 1947, kennt sich in beiden Ländern aus. Er hat Goebbels’ Tagebücher ins Englische übersetzt, Bücher unter anderem über die Bombardierung Dresdens und die Entnazifizierung geschrieben. Seine beiden wichtigsten Fundgruben sind das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen im Schwarzwald sowie das Archiv der Mass Observation, einem 1937 gestarteten einzigartigen Projekt, das den Alltag der Briten im großen Stil festhielt, in Form von Tagebüchern und Beobachtungen. Dazu kommen Interviews mit Zeitzeugen sowie Briefe, Bücher und Zeitungen. Die Boulevardblätter als „Volkes Stimme“ interessieren Taylor dabei besonders.

Das Buch ist ein Mosaik, so beschreibt es der Autor zu Recht, aus den Erlebnissen und Erinnerungen der Bürger einerseits, der Politik von Hitler, Chamberlain und Co. andererseits. Das liest sich nicht immer ganz leicht. Zum einen, weil sich auf fast jeder Seite eine Fülle von Figuren tummeln, von denen man ja die meisten nicht kennt, zum anderen, weil lange Zitate den nüchtern gehaltenen Text unterbrechen. Am besten liest man den Band vielleicht portionsweise.

Wer kennt noch Neville Chamberlain?

Naturgemäß sind die englischen Perspektiven für den deutschen Leser spannender. Wer hat schon auf dem Schirm, wie populär Neville Chamberlain, heute aufgrund seiner Appeasement-Politik so verrufen, damals gewesen ist. Taylor erinnert daran: In englischen Spielzeugläden konnte man zur Zeit des Münchener Abkommens Puppen mit Chamberlains Antlitz im Fliegenfischeroutfit kaufen – der Premier war passionierter Angler –, mit dem Schild „Friedensstifter“ in der Hand. Nach der Rückkehr von den Verhandlungen überschütteten ihn die Landsleute mit Präsenten – Blumen, Socken, Angelruten.

Die multinationale Perspektive birgt manche Überraschung, was die Nähe der beiden einander bald bekämpfenden Nationen angeht. Dass sie noch 1938 denselben Hollywood-Schinken mit Clark Gable im Kino sahen, gehört zu den harmloseren. Was Taylor wie den Leser schockiert, ist der ausgeprägte Antisemitismus auch jenseits des Kanals, der sich in Leserbriefen Luft macht. „Judenhasser – und stolz darauf“ unterzeichnet einer der vielen Absender, die sich mit Vehemenz gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehren.

Faschisten in Großbritannien

Auch Großbritannien hatte eine faschistische Partei und einen „Führer“, Sir Oswald Mosley. Die Schar seiner Anhänger war zwar überschaubar, aber einflussreich; gerade Mitglieder der upper class sympathisierten mit ihm. Auch er tritt bei Taylor auf, mit Beschreibungen und Fotos seiner Massenkundgebungen, die die deutsche Presse bejubelte.

Er hätte, schreibt Frederick Taylor am Anfang, sein Buch vor zehn Jahren wahrscheinlich anders geschrieben. Seine Quellen präsentiert er nun vor dem Hintergrund des Brexit, von neu erwachtem Fremdenhass und Populismus. Eine ungemütliche Lektüre, mit der Taylor durchaus alarmieren will.

Frederick Taylor:  Der Krieg, den keiner wollte. Briten und Deutsche: Eine andere Geschichte des Jahres 1939. Siedler Verlag, München 2019. 432 S., 30 Abb., 30 €.

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