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Herta Müller: Leben & Werk: Fuchs und Jäger

Schriftstellerin des ewigen Dazwischen: Gregor Dotzauer über die Nobelpreisträgerin Herta Müller und ihre Literatur.

Von Gregor Dotzauer

Ein Kinderleben lang war für sie Nitzkydorf, der kleine Ort im rumänischen Banat, aus dem sie stammt, die ganze Welt. Die Bauern, unter denen sie aufwuchs, das Deutsch, das man dort ausschließlich sprach, die landschaftliche und wirtschaftliche Kargheit, von der sie umgeben war – nichts versuchte, Herta Müller davon abzubringen, dass noch ein Außerhalb existierte. Die Banater Schwaben hatten sich abgeschottet und wollten nicht zur Kenntnis nehmen, dass auch andere Minderheiten wie die Ungarn sich ähnlich abgeschottet hatten. Erst als Herta Müller mit 15 Jahren nach Temesvar, in die nächstgelegene Großstadt, kam und auf der Schule Rumänisch lernen musste, schrumpfte die Dorfwelt plötzlich zur Insel voller Staub und Sumpf, und sie fand Hinweise darauf, dass einiges von dem, was ihr nicht nur als mehrheitskultureller Druck, sondern auch als stalinistische Drohung entgegenkam, sich schon zuvor in einzelnen Wörtern und Sätzen angedeutet hatte.

Vielleicht war das aber auch eine Erkenntnis, die die Erwachsene dem Kind erst bewusst machen musste, aus dessen Perspektive die Prosaskizzen ihres 1982 zensiert in Bukarest und 1984 unzensiert in Berlin erschienenen Debüts „Niederungen“ geschrieben sind: in einem manchmal fast ruppigen Deutsch, dessen kurz angebundene Syntax die Kargheit der dörflichen Umgebung spiegelt. Seine archaische Anmutung verbirgt jedoch höchstens auf den ersten Blick, dass es sich um eine zutiefst moderne, das heißt sich selbst ständig reflektierende Sprache handelt. Alles ist aus seiner Selbstverständlichkeit entrückt: das „Ausland, das im Dorf der Westen genannt wird“, die „Helden, die im Dorf die Gefallenen genannt werden“. In der Dorfsprache, erinnerte sie sich, hießen „die Dinge genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis. Es gab für die meisten Leute keine Lücken, durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren musste, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere.“

Um einen kritischen Keil in die eigene Sprache treiben zu können, war für sie auch das Rumänische als Werkzeug nützlich. „Die Kakerlaken hießen ,Russen’“, erklärte sie in einer Vorlesung ihrer Tübinger Poetikdozentur, „die nackten Glühbirnen ohne Schirm ,Russischer Kronleuchter’“, und der Gaumen Mundhimmel, cerul gurii. „Oft habe ich mir gedacht, wo der Gaumen ein Mundhimmel ist, gibt es viel Platz, Flüche werden unberechenbare, poetisch böse Tiraden der Verbitterung. Ein gelungener rumänischer Fluch ist eine halbe Revolution am Gaumen, sagte ich damals zu rumänischen Freunden.“

Es waren dies alles Fingerzeige für sie, dass Sprache nicht ohne weiteres als Heimat zu betrachten sei. Herta Müller hält es da, im Wissen, dass die Inhalte der eigenen Muttersprache sich gegen einen wenden können, lieber mit Jorge Semprún: „Nicht Sprache ist Heimat, sondern das, was gesprochen wird.“ Aus den „Niederungen“ strich ihr der rumänische Verlag sogar das Wort Koffer: „Es war zum Reizwort geworden, weil die Auswanderung der deutschen Minderheit tabuisiert werden sollte. Die verordnete Sprache wird so feindselig wie die Entwürdigung selbst. Von Heimat kann da nicht die Rede sein.“

So ist die 1953 geborene Herta Müller seit ihrer Ausreise nach Westdeutschland im März 1987, damals noch mit ihrem ebenfalls schreibenden Mann Richard Wagner zusammen, endgültig eine Schriftstellerin des Dazwischen: wohnhaft im Berliner Stadtteil Friedenau, aber in ihrer Literatur nach wie vor an die Erlebniswelt Rumäniens hingegeben – vor allem an die Verletzungen, die ihr dort zuteil wurden; auf der Suche nach der Wirklichkeit eines untergegangenen Landes, in der Vergrößerung der Details aber mit surrealistischen Qualitäten. „Nachts kommt der Traum durch den Hinterhof ins Bett“ – Müllers oft zitierter Satz aus den „Niederungen“ gilt auch für den Albtraum: Es gibt kein Idyll bei ihr, dass nicht zugleich ein Antiidyll wäre. Jeder Kohlweißling ist zugleich ein Ungeheuer.

Nachdem sie von 1973 bis 1976 in Temesvar Germanistik und Romanistik studiert hatte, fand sie zunächst eine Anstellung als Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik. Vier Jahre später wurde sie entlassen: Sie hatte sich geweigert, mit der Securitate zusammenzuarbeiten. Auch als zeitweilige Kindergärtnerin, die zu schreiben begonnen hatte, ließ sie Ceausescus Geheimdienst nicht in Ruhe; schließlich setzte die Securitate sogar die Eltern der Schüler unter Druck, denen sie privat Deutschunterricht erteilte. Man machte regelrecht „Menschenjagd“ auf sie, und auch um sich herum entdeckte sie die gut eingespielten Mechanismen von „Verhören, Zwangspsychiatrie, Erschießen auf der Flucht, Haft, Folter, Mord“. In „Hunger und Seide“ (1995) schrieb sie: „In meiner Stirn sind die Beschädigungen einer Einheimischen und die Bedenken eines fremden Passagiers.“

Alle ihre Bücher sind hellsichtige Versuche, das Angsttrauma jener Jahre zu bannen, und die poetischen Bilder, die sie dabei oft schon in den Titeln verwendet, verleihen den seelischen Verheerungen eine ungewöhnliche körperliche Lebendigkeit. „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ (1992), „Herztier“ (1994) und „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“ (1997) bilden dabei eine Roman-Trilogie, deren Verstörungskraft nicht zuletzt darin besteht, dass sie eine Gesellschaft beschreiben, in der auch die scheinbar intimsten, unverstelltesten Beziehungen von Argwohn und Verrat vergiftet werden.

Ceausescus Rumänien war sicher einer der finstersten Kerker unter allen sozialistischen Diktaturen Osteuropas. Man greift aber zu kurz, wenn man Herta Müllers Bücher nur zum Besten erklärt, was die rumäniendeutsche Literatur neben den Gedichten von Rolf Bossert, der sich noch im bundesrepublikanischen Übergangslager das Leben nahm, zu bieten hat. Herta Müllers atemlose lyrische Prosa transportiert universale Erfahrungen, wie sie auf andere Weise auch Jorge Semprún, Imre Kertész oder Georges-Arthur Goldschmidt mitteilen. Der Literaturnobelpreis verschafft dabei vielleicht auch einer Perspektive Beachtung, die gegenüber den Holocaust-Erfahrungen bisher zurücktreten musste.

Herta Müller, geboren am 17. August 1953 in Nitzkydorf, Rumänien, gehört zu den Banater Schwaben, einem Teil der deutschen Minderheit in Rumänien. Ihr Großvater war Bauer und Kaufmann und wurde unter dem kommunistischen Regime enteignet. Ihre Mutter war zu jahrelanger Zwangsarbeit in die UdSSR deportiert worden. Ihr Vater, ein ehemaliger SS-Soldat, verdiente seinen Lebensunterhalt als Lkw-Fahrer.

Nach dem Abitur studierte Herta Müller in Temesvar Germanistik und rumänische Literatur. Ab 1976 arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik, wurde allerdings 1979 entlassen – nach ihrer Weigerung, mit der rumänischen Securitate zusammenzuarbeiten. Ihr Debüt Niederungen konnte 1982 in Rumänien nur in zensierter Fassung erscheinen.

1987 reiste Herta Müller mit ihrem damaligen Ehemann, dem Schriftsteller Richard Wagner, in die Bundesrepublik Deutschland aus. Heute lebt sie in Berlin.

2009 wurde ihr Roman „Atemschaukel“ für den Deutschen Buchpreis nominiert, der am Montag in Frankfurt verliehen wird. Eine Leseprobe und Liste ihrer Bücher: Seite 26.

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