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Ein Straßenbild aus der tansanischen Hauptstadt Daressalam. Foto: Charles Bowman

© imago/robertharding

En Kontinent mit eigenem Maßstab: Ein Afrika von morgen

Felwine Sarr fordert echte Unabhängigkeit für den Kontinent und die Überwindung des Neokolonialismus.

Ein Essay mit der Utopie im Titel ist notgedrungen auf die Zukunft gerichtet. Trotzdem prangert Felwine Sarr diese Rhetorik schon auf den ersten Seiten seiner Streitschrift „Afrotopia“ an: Das Gerede von Afrika als „Zukunftskontinent“ – ein Lieblingswort des deutschen Entwicklungsministers Gerd Müller – bedeute die Abwertung der Gegenwart. „Millionen Menschen teilt man täglich auf unterschiedliche Weise mit, das Leben, das sie führen, spiele keine Rolle“, schreibt Sarr, der im senegalesischen Saint-Louis Wirtschaftswissenschaften lehrt.

Sarr möchte anders über eine afrikanische Zukunft nachdenken, nämlich von innen und damit emanzipatorisch. Die Erzeugung einer eigenen Zukunftsmetapher ist für ihn die Voraussetzung eines autonomen, also nicht fremdbestimmten Fortschritts einer jeden Gesellschaft. Wenn es um Afrika geht, seien es aber immer noch andere, die ihre Ideen von Moderne auf den Kontinent projizierten und damit koloniale Muster fortführten. Sarrs Idee von „Afrotopia“ setzt dieser Projektion eine „aktive Utopie“ entgegen, um „die gewaltigen Möglichkeitsräume innerhalb der afrikanischen Wirklichkeit aufzustöbern und sie fruchtbar werden zu lassen“.

1 Kontinent, 54 Staaten

Gleich vorneweg: Ja, es ist problematisch, dass Sarr durchweg auf Afrika als undifferenzierte geografische Masse rekurriert, immerhin ein Gebiet von über 30 Millionen Quadratkilometern und einer Einwohnerzahl, die bis Mitte des Jahrhunderts ein Viertel der Erdbevölkerung ausmachen wird. Natürlich: dass es sich überhaupt um 54 verschiedene Staaten handelt, ist zu einem Gutteil der willkürlichen kolonialen Grenzziehungen des 19. Jahrhunderts geschuldet.

Aber das ist in diesem Fall nicht der Punkt. Sarr ist es vor allem daran gelegen, eine Art Einheit in der Vielfalt auszumachen. Eine Einheit, die er mit einem gemeinsamen Schicksal und einem gemeinsamen Befreiungskampf begründet. Er teilt diese emanzipatorische Verwendung des Adjektivs „afrikanisch“ mit der Bewegung der Négritude, die um die Dichterpolitiker Léopold Senghor und Aimé Césaire schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein spezifisches „schwarzes“ Selbstbewusstsein proklamierte und damit ebenso viele Anhänger wie Kritiker fand.

Belgische Brutalitäten

Deutlich stärker als bei den Denkern der Négritude zielt Sarrs Kritik auf die Einmischung in afrikanische Angelegenheiten von außen. So entlarvt er etwa die westliche Idee der „Entwicklung“ des globalen Südens als „Einwicklung“ lokaler Kontexte und Potenziale in ihnen fremde Logiken und Vorgaben. Kolonialismus ist damit die Reproduktion eines vorgefertigten Gesellschaftsmodells, das für lokale Kulturen wenig bis keinen Platz bietet. Das gelte gestern wie heute: „Die Moderne wäre das Kleid der Gegenwart, zwar anderswo geschneidert, aber dennoch alles abdeckend, was man braucht, um in der Welt dazuzugehören – und sei es, dass einige Gliedmaßen gekürzt werden müssen, damit man hineinpasst“, schreibt Sarr und spielt damit auf die Grausamkeiten der belgischen Herrschaft über den Kongo an, wo das massenhafte Abhacken von Händen noch Ende des 19. Jahrhundert eine Züchtigungsmaßnahme der Kolonialverwaltung war. Mit der Macht westlicher Expertise, für die die Politik afrikanischer Länder viel zu hörig sei, werde diesen Ländern noch immer von außen vorgeschrieben, was zu tun sei, ohne die je eigene kulturelle und gesellschaftliche Logik zu berücksichtigen oder wenigstens zu erkennen.

Forschungsinstitut in Antananarivo auf Madagaskar (Afrika). Foto: Jürgen Bätz/dpa
Forschungsinstitut in Antananarivo auf Madagaskar (Afrika). Foto: Jürgen Bätz/dpa

© picture alliance / dpa

Sarr geht es darum, eine den lokalen Kontexten gerechtere Moderne zu entwerfen. Dieser Blick nach vorne beginne mit einer Rückbesinnung auf den kulturellen und philosophischen Reichtum des Kontinents. Es sei schlicht falsch, afrikanische Geschichte auf die Sklaverei und die kolonialen Abenteuer des Westens zu reduzieren. An verschiedenen Stellen schöpft Sarr aus dem Fundus der intellektuellen Elite des Kontinents und zeigt, dass es keiner Fremdbeschreibung bedarf, um Wissen über Afrika zu produzieren.

Die Intellektuellen entrümpeln das Denken

Besonders eindrucksvoll gelingt ihm das in einem knappen Kapitel über diese Selbstermächtigung im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften. Er zeigt, dass es Intellektuellen von Senegal bis Südafrika bereits gelungen ist, die alte „Kolonialbibliothek“ kräftig zu entrümpeln und eigene historische, soziologische und philosophische Forschungen in ihre Regale zu stellen.

Zentral ist für Sarr die Übertragung dieser Gedanken auf wirtschaftliche Reformen. Sein Credo: Die Ökonomie müsse fester in die dynamischen Werte der lokalen Kulturen verankert werden. Wirtschaft sei nur das Mittel zu einem Zweck, der von kulturellen Werten geprägt sein müsse. Im Falle Afrikas seien das nun einmal andere als im individualistisch geprägten Turbokapitalismus des globalen Nordens. Für ein solches Unterfangen bedürfe es aber der „Souveränität über die Zeit“. Sarr meint damit, einen von außen verordneten Rhythmus zu verweigern, und fordert für afrikanische Nationen ein, die Prioritäten und Zeithorizonte ihrer Entwicklung selbst setzen zu dürfen: „Afrika muss niemanden aufholen.“

Fröhlicher Sozialismus?

Mit diesen Werten meint er etwa Subsistenz, Großzügigkeit, Gemeinschaft und Tausch, was zugegebenermaßen leicht nach einem fröhlichen Sozialismus klingt, der einfach in die Tat umgesetzt werden müsste. Damit zeigt sich im Zuge dieses ermutigenden Plädoyers für einen eigenen Entwicklungsrhythmus eines der größten Probleme des Essays: Sarr nimmt immer wieder Fahrt auf, um dann abrupt abzubremsen, sobald er eine gewisse Geschwindigkeit erreicht hat.

Manuskript über Musik, eine Handschrift aus Timbuktu (Mali). Foto: p-a
Manuskript über Musik, eine Handschrift aus Timbuktu (Mali). Foto: p-a

© picture alliance / CPA Media Co.

Bei seinen Gedanken zu den Wirtschaftsreformen wird das besonders deutlich. Der Forderung, die Verwicklung von Ökonomie und Kultur müsse die Grundlage jeder zukünftigen Politik sein, folgen kaum Hinweise, was das bedeuten könnte. In Verbindung mit seinem Argument einer eigenen afrikanischen Geschwindigkeit werden Gedanken an das alte Konzept der Entwicklungspolitik wach, nach dem eine nationale Wirtschaft sich erst einmal abschotten und wachsen müsse, um dann aus eigener Kraft im Spiel ökonomischer Mächte bestehen zu können. Falls Sarr etwas Derartiges meint, bleibt aber unklar, wie diese Idee in der Praxis einer globalisierten und voll vernetzten Welt aussehen soll.

Rückgabe von Kulturgut

Andererseits kann gerade Felwine Sarr nicht vorgeworfen werden, dass seine postkolonialen Ideen keinen Eingang in die konkrete Politik finden: Im November übergab er gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron den mit Spannung erwarteten Bericht über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes.

Darin ist etwa von einer „Ökonomie des Austauschs“ die Rede, die eine Restitution geraubter Kulturgüter mit sich bringen könne. Ein Gedanke also, der in hohem Maße an Sarrs afrotopische Wirtschaftspolitik anschließt. Der auch hierzulande bereits viel diskutierte Text erscheint in Kürze in deutscher Übersetzung beim Verlag Matthes & Seitz.

Überhaupt wäre es unfair, einem programmatischen Essay von 150 Seiten fehlende Handlungsempfehlungen vorzuwerfen. Die Herausforderung besteht darin, weitere Ideen aus „Afrotopia“ in konkrete Politik zu überführen – oder die Politik immerhin mit diesen Ideen zu inspirieren.

Felwine Sarr: Afrotopia. Aus dem Französischen von May Henninger. Matthes & Seitz, Berlin 2019, 176 S., 20 €. - Felwine Sarr, Bénédicte Savoy: Die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes. Aus dem Französischen von Daniel Fastner. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 200 S., 18 € (erscheint voraussichtlich am 26. April)

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