zum Hauptinhalt

Eine Geschichte der Stadt am Goldenen Horn: Aufstand der Pferdefans

Wie Konstantinopel war, und wie es zu Istanbul wurde

Sechs Jahre liegen die Proteste im und um den Istanbuler Gezi-Park zurück. Vordergründig ging es um die Rettung einer grünen Oase inmitten des Häusermeeres, viel grundlegender aber um Mitbestimmung der Einwohner bei den Angelegenheiten ihrer Stadt. Für Malte Fuhrmann waren die Unruhen am Gezi-Park der Auslöser, die Geschichte der Stadt über zwei Jahrtausende zurückzuverfolgen, aber nicht als politische Ereignisgeschichte, sondern aus der Perspektive der anonymen, aber einflussreichen, eben geschichtsmächtigen Einwohnerschaft. Erkenntnisleitend ist für Fuhrmann der von dem französischen Soziologen Henri Lefebvre 1968 geprägte Begriff vom „Recht an der Stadt“. Gemeint ist die immer schon vorhandene, sich in jeweils zeittypischer Weise äußernde Forderung, überhaupt „gehört“ zu werden und über eine solche Anhörung seitens der Mächtigen Einfluss zu nehmen.

Eine neue Gesellschaft

Natürlich kommt der Historiker Fuhrmann, der lange in Istanbul geforscht hat, nicht umhin, die „große“ Geschichte in kräftigen Strichen zu skizzieren, in die er die Lokalgeschichte von Unruhen, Aufständen und deren Niederschlagung einbetten kann. Das herkömmliche Bild von der strahlenden Stadt zwischen zwei Kontinenten und zwei Meeren bekommt eine ganz andere Färbung. Wer hätte gewusst, dass sich der Aufstieg des als größter Herrscher der Spätantike verehrten Kaisers Justinian einem Aufstand der Anhänger der Pferderennen verdankt, dem Justinian mit einem Gemetzel unter 30 000 Fans ein blutiges Ende bereitete? Wer kannte schon die näheren Umstände der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453, die alsbald als welthistorische Zeitenwende begriffen wurde? Sultan Mehmed II. musste sich eine ganz neue Stadtgesellschaft schaffen, da die alte, griechisch-lateinisch-christlich geprägte, Hals über Kopf geflohen war. Wie das neue Istanbul dann über Jahrhunderte zu einer kosmopolitischen Stadt wurde, ist bei Fuhrmann in einer Fülle spannender Details nachzulesen; auch, wie es damit im 20. Jahrhundert ein Ende hatte, bis sich Istanbul in jüngster Zeit zur ausufernden Mega-City im globalen Netzwerk neoliberaler Finanzplätze wandelte.

Die Wut der Bürger

Den Veränderungen, die im Protest im Gezi-Park ihren sichtbaren Ausdruck fanden, widmet Fuhrmann eine ausführliche, aufgrund eigenen Miterlebens wohl etwas zu romantische Betrachtung aus der Perspektive der empörten Stadtbewohner. Denn dass aufständische Stadtbürger ihre Ziele am Ende nie ganz erreichen, gehört zu jeder Stadtgeschichte; jedoch ebenso, dass aus solchen unaufhebbaren Spannungen eine produktive Stadtgesellschaft erwächst. Fuhrmanns Buch stellt eine ganz andere, nicht minder faszinierende Geschichte der Stadt zwischen Antike und Gegenwart vor als die herkömmliche, westlich orientierte Lesart.

Malte Fuhrmann: Konstantinopel – Istanbul. Stadt der Sultane und Rebellen. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2019. 464 S., 26 €.

Zur Startseite