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 Die Abgeordneten der Nationalversammlung von 1848 tagen in der Frankfurter Paulskirche.

© ullstein bild

Das westliche Modell strahlt unverändert: Der Westen als universales Projekt

Heinrich August Winkler hat sein magnum opus nochmals verdichtet, als Mahnung in aufgewühlter Zeit.

Aus vier mach eins, lautete die ehrgeizige Absicht, nämlich aus den vier Bänden, die Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ umfasst, einen einzigen zu machen und dessen Umfang überdies, wie der Autor in Aussicht stellt, unter die 1000 Seiten zu drücken, die jeder einzelne Band des Werkes hatte. Das ist auch für einen Autor, der mit der Organisation großer Stoffmassen Erfahrung hat, eine herausfordernde Operation, und man hätte befürchten können, zum Zeugen eines großen Kürzungsmassakers an dem zwischen 2009 und 2015 erschienenen Werk zu werden. Aber der Leser hält keineswegs ein zusammengestückeltes Flickwerk in der Hand. Das Buch folgt – unter dem etwas bedeutungsschweren Titel „Werte und Mächte“ – den Thesen und Themen der „Geschichte des Westens“. Insofern schreibt Winkler kein neues Buch. Er schreibt sein erfolgreiches Buch neu.

Zu diesem Behufe konzentriert er das Feld seiner Darstellung auf die USA und die großen europäischen Mächte, Seitenblicke auf den Rest der Welt eingeschlossen. Und er strafft, konzentriert, lässt viele Einzelheiten, manchmal ganze Gesichtspunkte weg – zum Beispiel werden aus den 1200 Seiten des ersten Bandes, der von der Antike bis zum Ersten Weltkrieg reicht, wenig mehr als 200. Wie in früheren Bänden der „Geschichte des Westens“ gibt ein „Rückblick und Ausblick“ genanntes Kapitel dem Strom der Erzählung einen orientierenden Rahmen. Wie überhaupt das Buch verspricht, die Rolle der Geschichte für die Ortsbestimmung die Gegenwart stärker in den Vordergrund zu rücken.

Fragen, immer weiter fragen

Es bleibt eindrucksvoll, wie Winkler auch in diesem Buch das Konzept seiner Geschichtsdeutung durchhält. Das hat inzwischen etwas von einem Kanon, in dem sich Überzeugungskraft und Plausibilität, Geschichtserzählung und Geschichtsdenken verbinden. Da ist – im Okzident des Mittelalters, wie der Autor formuliert – das „Klima des bohrenden Fragens“, das sich nur im Westen Europas entwickelt und in dem er die Bedingung des „Aufbruchs zu neuen Ufern“ erkennt. Da spielen die „atlantischen Revolutionen“ ihre fundamentale Rolle, die amerikanische Unabhängigkeit und der französische Völkerfrühling, mit denen er den modernen Westen beginnen lässt. Da vollziehen sich die Umgründungen der Staatenwelt in den Turbulenzen des 19.Jahrhunderts, bis die Welt in die Katastrophen des ersten Weltkriegs und der beiden russischen Revolutionen stürzt, mit 1917 als Epochenjahr.

Stufe folgt auf Stufe, Schritt auf Schritt, in Gang gesetzt, in Bewegung gehalten – so Winklers botschaftsgleiche Grundthese – durch ein „normatives Projekt“, eine politische Ordnung, „die sich auf die Idee der unveränderlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie gründet“.

Kein gerader Weg durch die Geschichte

Ein Gedanke, fast zu schön, um wahr zu sein? Winkler lässt keinen Zweifel daran, dass dieses Projekt nicht einfach für die Wirklichkeit genommen werden darf, und sein Weg durch die Geschichte keineswegs gradlinig in Richtung Aufklärung und Fortschritt führt. Dagegen spricht schon, dass er die Geschichte des Westens als eine „Geschichte der Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten“ versteht. Immer ist sie auch Schauplatz von Verstößen gegen die Prinzipien, die ihr auf ihre Fahnen geschrieben worden sind. Allerdings ist sie auch – so betont Winkler, alles andere als ein Geschichtsfatalist – „eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrektur, also von Lernprozessen“. „Projekt versus Praxis“ heißt denn auch das Kapitel des Rück- und Ausblicks am Ende des Buches, mit dem Winkler den Bogen seiner Geschichtserzählung resümiert .

Denn es sind gerade die Spannungen zwischen Anspruch und Praxis sowie die konfliktreichen Verzweigungen der Geschichte selbst, aus denen – so Winkler – der Westen seine Kräfte, seine Dynamik zieht. Er spitzt den Gedanken drastisch zu (er ist für ihn so tragend, dass er wörtlich auf seine „Geschichte des Westens“ zurückgreift): Die Entwicklungen und Sündenfälle in der Geschichte des Westens, die dessen eigene Prinzipien infrage stellen – als Beispiele nennt er Sklavenhandel und Sklaverei für seine Ursprungsepochen, Kolonialismus und Imperialismus für die neueren Zeiten – seien „keine ,Betriebsunfälle’ in der Geschichte des Westens, sondern Ausfluss einer Dynamik, die dem okzidentalen Individualismus immanent ist“.

Korrekturen am Kurs

Doch verfüge er über das Potential, solche Schwächen und Fehlentwicklungen zu korrigieren, „eine Chance, die die Länder des Westens manchmal genutzt, aber immer wieder auch ausgeschlagen haben“. Das alles stelle das Projekt nicht grundsätzlich infrage: „Das Projekt des Westens zu widerlegen“, davon ist Winkler überzeugt, „hat die Praxis des Westens bis heute nicht vermocht“.

Das Buch demonstriert abermals die Vorzüge von Winklers Ansatz als Historiker: Geschichte im Erzählen verstehend und deutend zu durchdringen. Auch hier setzt er wie in seinen früheren Veröffentlichungen auf den Erklärungswert der Erzählung und übt sie in bewährter Weise aus: ruhig im Duktus, bestimmt in der Diktion, überlegen urteilend.

Man kann die Art und Weise, in der er den Durchgang durch ein Dutzend Jahrhunderte auf 900 Seiten bewältigt, nur hoch respektabel, ja bravourös finden. Notgedrungen wird die Erzählung, die die Geschichte von Reformation und Renaissance bis zu den Europawahlen vom Mai diesen Jahres in den Griff nimmt, oft auch kurzatmig und überfordert insofern den Leser. Doch gelingt es Winkler immer wieder, große Linien, welthistorische Zäsuren und zivilisatorische Entwicklungsschübe sichtbar zu machen, nicht zuletzt mit Hilfe seiner treffsicher formulierten Kapitelüberschriften. Man kann die Arbeit der Verdichtung der Fülle des Stoffs und der Komplexität des Geschehens, die in diesem Text steckt, nur bewundern.

Politik an erster Stelle

Winkler bewegt sich weitgehend, darin fast ein wenig konventionell, in der Zone der politischen Geschichte, ihrer Ereignisformen und Problemstellungen. Zugleich ist der politisch-aufklärerische Impetus seiner Darstellung nicht zu verkennen. Genauer: Dieser Historiker schreibt bewusst als Zeitgenosse und engagierter Teilnehmer der aktuellen Diskussionen, als Verfechter der von ihm analysierten politischen Kultur des Westens – freilich ohne der Geschichte ihr Recht an sich selbst zu nehmen und weit davon entfernt, sie als bloße Illustration von Ideen oder eines Programms zu benutzen. Dementsprechend bekommt Winklers lange Erzählung ein Übergewicht zugunsten der neuesten Zeit. Sie wird nicht nur in der zweiten Hälfte des Buches zur Zeitgeschichte. Sie versteht sich als Beitrag zum Verständnis der Herausforderungen, die die Welt seit der Wende zunehmend in Atem halten.

Was den Westen zusammenhält

Das Buch ist vermutlich das Ende von Winklers langjähriger, leidenschaftlicher Affaire mit dem Phänomen des Westens, falls seiner am Werk mitwirkenden, von ihm vielfach mit Dank bedachten Frau und dem Verlag nicht noch eine Fortführung einfällt – 2017 entstand so, dem Vernehmen nach, seine Zeitanalyse „Zerbricht der Westen?“, die das Geschichtsprojekt unterbrach. Da ist die Frage nicht zu umgehen, was es heißt, dass dem Projekt des Westens universaler Rang zukomme. Aus der „Geschichte des Westens“ konnte man noch heraushören, dass es mit seinen Werten, mit Menschenrechten, Gewaltenteilung und Demokratie die Zukunft auch anderer Kulturen werden könne. Jetzt nennt Winkler den Westen einschränkend „ein weltgeschichtlich einzigartiges Ensemble von Errungenschaften“. Überhaupt ist unübersehbar, dass das neue Buch signifikant skeptischer und defensiver ist als die „Geschichte des Westens“. Aber deren Fluchtpunkt war noch der Mauerfall.

Heute, nach Nine-Eleven und der Weltfinanzkrise und zur Zeit von Trump und Brexit, sieht Winkler die Länder des Westens in der Gefahr, „das Bewusstsein für das zu verlieren, was sie im Innersten zusammenhält – besser: zusammenhalten könnte und sollte“. Man versteht Winklers großes Unternehmen richtig, wenn man darin seinen Beitrag sieht, dieses Bewusstsein wachzuhalten und zu stärken.

Heinrich August Winkler: Werte und Mächte. Eine Geschichte der westlichen Welt. Verlag C.H. Beck, München 2019. 968 S., 38 €.

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