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Der britische Premierminister Winston Churchill vor Downing Street No 10 in London (Archivfoto von 1943).

© picture-alliance/ dpa

Churchill-Biographie: Sein Held und er

Boris Johnson, der exzentrische Bürgermeister von London, hat eine Biographie von Winston Churchill geschrieben. Eine Rezension

Churchill-Biografien gibt es regalmeterweise und zur 50. Wiederkehr seines Todes sind etliche dazugekommen. Nun wollte Boris Johnson, der im Nebenberuf Bürgermeister von London und Abgeordneter in Westminster ist, auch nicht wirklich eine Biografie schreiben, denn schon im Vorwort verbeugt er sich vor dessen Biografen Gilbert, Roberts, Hastings, Toye, Jenkins, die er gelesen und genutzt hat. Johnson ging es, schreibt er, um eine „Neubewertung, weil eine angemessene Bewertung seiner historischen Leistungen keineswegs selbstverständlich ist“.
Nun gibt es eine Menge in dieser geistreichen, zuweilen amüsanten und unterhaltsamen Erzählung, die Persönliches, Krieg und Politik schön miteinander verwebt, eine Neubewertung seiner Großtaten wie Pleiten ist eher nicht dabei. Was der „Churchill Faktor“ indes gewisslich ist, ist eine Liebeserklärung an ein Idol. Schon in seiner Kindheit hat sich Johnson mit seinem Bruder über Churchilliana gebeugt und diesem großen Engländer mit Begeisterung gehuldigt.

Seine Notizen und Briefe umfassen eine Million Dokumente in 2500 Kisten

Der Autor gräbt Bonmots und Geschichten aus, um seinen Helden noch besser zu beleuchten. Er ist fasziniert von seiner unerhörten Energie, diesem stets sprudelnden Quell von Schreibwut und Ideen und ist fassungslos, dass sein Held nach einem langen Tag und späten Abend voller Alkohol und Zigarren auch nachts noch produktiv ist. Auch Johnson ist kein Faulpelz, wie sein Vorbild ist er Journalist und Politiker und steht immerhin keiner Provinzstadt vor, auch er hat schon acht Bücher geschrieben und ist Kolumnist beim „Daily Telegraph“, aber das Genie, die Schaffenskraft, die Neugierde, die Unangepasstheit seines Idols überwältigen ihn schier.

Churchill hat 31 umfangreiche Bücher produziert, allein seine veröffentlichten Reden aus 64 Jahren Mitgliedschaft im Unterhaus füllen 18 Bände, seine Notizen und Briefe umfassen eine Million Dokumente in 2500 Kisten. „Als Schatzkanzler legte er fünf Haushalte vor und sprach für gewöhnlich drei oder vier Stunden lang“ – alles ohne Redenschreiber. Er wurde mit 26 zum ersten Mal ins Parlament gewählt, war mit 30 stellvertretender Kolonialminister, mit 34 Handelsminister, mit 36 Innenminister und mit 37 Marine-Minister. Er war ein Leben lang glücklich mit Clementine verheiratet, hatte vier Kinder, die er zärtlich liebte und weit anders behandelte, als sein eigener Vater ihn je behandelt hatte. Johnson geht der unglücklichen Beziehung zwischen Vater und Sohn ohne albernes Psychologisieren auf den Grund und versucht die Rolle Randolph Churchills für den außerordentlichen Lebensweg seines ungeliebten und getriezten Sprösslings zu erklären. Durch die Mutter, Jenny Jerome, eine ebenso schöne wie promiske und verschwenderische Frau, war Churchill halber Amerikaner. Churchill war ein Imperialist der alten Schule, das Empire zu erhalten war sein ewiges Ziel. Der Enkelsohn des Herzogs von Marlborough war aber auch ein fortschrittsgläubiger Mann, kein verknöcherter Aristokrat. Ihm verdanken die Engländer die Entwicklung des Panzers im Ersten Weltkrieg, er modernisierte die Navy, er stellte die Befeuerung der Schiffe von Kohle auf Öl um, er war einer der ersten mutigen Flieger und 1913 Gründer des Royal Navy Flying Corps. Er kämpfte als Soldat auf vier Kontinenten und war schon mit zwanzig Kriegsberichterstatter im Kolonialkrieg Spaniens auf Kuba. Er kämpfte und berichtete stets gleichzeitig, ob in Malakand, Omdurman oder im Burenkrieg. Seine Honorare waren nicht nur für damalige Zeiten sagenhaft. In Südafrika geriet er in Gefangenschaft, die anschließende erfolgreiche Flucht machte ihn auch noch zum Nationalhelden. Außerdem malte er und war begeisterter Maurer, sogar einige seiner Bekleidungsstücke hatte er entworfen.

Klein, wortgewaltig, trinkfest, schreibwütig

Dieses pralle junge Leben wurde noch praller, als er in die Politik ging, die Partei wechselte und im Ersten Weltkrieg vor allem für das Desaster von Gallipoli in der Dardanellenschlacht verantwortlich wurde. Danach verlor er erst mal sein Ministeramt. Zog aber als Oberstleutnant in den Krieg. Nach dem Krieg wechselte er bald wieder die Partei und wurde Schatzkanzler im Jahre 1924. Schon bahnte sich seine nächste Pleite an, Churchill sorgte für die Rückkehr Großbritanniens zum Goldstandard – eine fatale Fehlentscheidung. Wegen seiner unnachgiebigen Haltung zur Unabhängigkeit Indiens wurde er dann von allen Ministerämtern ausgeschlossen und lebte von 1932–39 in der „politischen Wildnis“. Mit knapp 65 Jahren, nach Chamberlains Zaudern, hieß es dann plötzlich „Churchill is back“: Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begann in rasantem Tempo und mit gewaltigen „Blut, Schweiß und Tränen“-Reden Churchills größte Zeit. Für den deutschen Normalleser, der von Churchill nicht viel mehr als die Fotos von Jalta, Potsdam und Casablanca, das V-Zeichen und die Bombardierungen deutscher Städte kennt, ist hier schnell viel zu lernen. Und sei es nur über die Bombardierung Coventrys und die zigtausend Toten durch den sogenannten Blitz, beides kommt in deutschen Geschichtsbüchern gern zu kurz. Johnsons Einstellung etwa zu Dünkirchen ist kaum beschönigend oder verherrlichend zu nennen – „die größte Demütigung für britische Streitkräfte seit dem Verlust der amerikanischen Kolonien“.

Boris Johnson: Der Churchill Faktor. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015. 472 Seiten , 24,95 Euro
Boris Johnson: Der Churchill Faktor. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015. 472 Seiten , 24,95 Euro

© Klett-Cotta

Wenn es aber um die Einschätzung Churchills für das Überleben Europas in Freiheit geht, kennt Johnson keinen Zweifel an der Bedeutung seines Helden. Ohne Churchills Entschluss, Hitler nicht die Hand zu reichen, sondern gegen ihn zu kämpfen und die Amerikaner mit ins Boot zu holen, hätte Hitler leicht den Krieg gewonnen. Es passt dem exzentrischen Bürgermeister ins historische Konzept, dass sein Held eben doch ein Held ist, unersetzlich, einmalig und der rechte Mann in diesem entscheidenden Kriegsmoment.
Churchill war kein Parteipolitiker, ihn interessierte nicht links oder rechts, er war schlagfertiger, klüger und wortgewaltiger, auch unverschämter als die anderen Männer der Politik. Boris Johnson, auch er ein kleiner Partei-Rebell, hat diesen Politiker und Literatur-Nobelpreisträger quellenstark und in zuweilen rotziger Sprache rübergebracht. Dass er dem Genie und Giganten Churchill die Fehler, auch die gravierenden, durchgehen lässt, mindert das Lesevergnügen nicht.

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