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Anders Behring Breivik am 6. Juni 20112 im Gerichtssaal in Oslo.

© dpa

Attentäter von Utoya: Ohne Zugehörigkeit

Der Attentäter von Oslo und Utoya: Asne Seierstad erzählt in ihrem Buch die Geschichte von Anders Breivik. Eine Rezension.

Wie konnte ein solch vernachlässigter, ohnmächtig wütender Mensch wie Anders Behring Breivik, der Massenmörder von Oslo und Utoya, über Jahrzehnte weitgehend sich selbst überlassen bleiben? „Auf infame Weise aggressiv“, lautet ein Aktenvermerk von 1983. Da ist der Junge vier Jahre alt.

Die Mutter ist überfordert, depressiv und haltlos. Sie ist launisch, lebt abgekapselt und bindungslos, ist zeitweise verwirrt. Sie ist psychisch krank. Der Vater, ein Diplomat, ist für den Sohn nicht vorhanden. Der Junge ist unerwünscht, ein dummer Zufall. Er hat keine Freunde, bemerken Erzieherinnen. Er hat keine Lebensfreude, bemerken Psychologen. Er kann sich nicht selbst beschäftigen. Außerdem weint er nie, wenn er sich wehtut. So wächst ein emotionsloser, psychisch verkapselter Mensch auf. Fürsorge findet kaum statt.

Er drangsaliert kleinere Kinder, quält Tiere

„Die Fassade war perfekt“, schreibt die norwegische Journalistin Asne Seierstad. „Hinter ihr gab es weder bedrohliche Nähe noch peinliche Intimität.“ Wie eine Maschine wird der 32-jährige Breivik 77 Menschen am 22. Juli 2011 töten. Die meisten richtet er förmlich hin, Auge in Auge mit vielen Opfern, also sehend, aber nicht fühlend. Im Titel deutet Asne Seierstad bereits ihre Sichtweise an: „Einer von uns“, lautet ihre aufwendig recherchierte Studie. Breivik wird also nicht als Monster dargestellt, sondern als Irregeleiteter, der nicht zu erreichen war: „Die Geschichte eines Massenmörders“ lautet der Untertitel dieser niederschmetternden Bestandsaufnahme, die vor drei Jahren in Norwegen erschien.

„Der Respekt der Nachbarn vor dem Privatleben war größer als ihre Sorge um die Kinder“, heißt es einmal bei Seierstad. Der spätere Killer tanzt nicht mit Altersgenossen, er spielt kein Tischtennis, er wird gehänselt. Er drangsaliert kleinere Kinder, quält Tiere, spielt „Herr über Leben und Tod“, schreibt die Journalistin. Er hat Allmachtsfantasien und will König in der Graffitiszene Oslos werden, bis er auch dort ausgegrenzt wird. Er macht eine Kehrtwendung, schließt sich der Fortschrittspartei an, die die Tagger, die Graffiti-Sprüher, bekämpft.

Breivik träumt davon, reich zu werden. Er will zu den Siegern zählen, er trägt Make-up auf, lässt sich die krumme Nase richten, will mehr scheinen, als er ist. Er ist ein Irrläufer, ein Träumer, ein vom Wahn, auserwählt zu sein, Getriebener. Überall sucht er Anschluss, unter anderem auch bei den Freimaurern. Er träumt von einer großen Familie mit sieben Kindern, aber er lebt allein und findet keinen Weg zu Frauen. In ihrem Nachwort bemerkt Seierstad, sie habe „ein Buch über eine erfolglose Suche nach Zugehörigkeit“ geschrieben.

Die Journalistin verfasst auch so etwas wie eine Gesellschaftsstudie. Sie skizziert den politischen und gesellschaftlichen Wandel Norwegens. Sie schildert ausgewählte Lebensstationen von späteren Opfern. Sie umreißt die Jugend- und Einwandererszene Norwegens.

Breivik radikalisiert sich, gerät auf krumme Touren. Er fälscht im großen Stil Diplome, kommt zu Geld, doch Geschäftsideen scheitern. Er interessiert sich für Waffen, belegt Schießkurse. Er beginnt mit Aktien zu spekulieren und verliert viel Geld. Er zieht, mit 27 Jahren, zu seiner Mutter zurück.

Danach verlor er „das Interesse am echten Leben“, schreibt Seierstad im Nachwort. Breivik versinkt vor dem Bildschirm seines Computers, vertieft sich in Spiele, wird abhängig, erlernt das virtuelle Töten, landet auf anti-dschihadistischen und rechtsextremen Webseiten. Fünf Jahre lang verbarrikadiert er sich in seinem Zimmer, schreibt schließlich sein „Manifest“ für die Nachwelt und bereitet sich dann generalstabsmäßig und besessen auf sein Massaker vor.

„Das System hatte versagt“

Im Mittelteil rekonstruiert die Journalistin die mehrwöchigen Vorbereitungen auf einem entlegenen Bauernhof, die Beschaffung von Chemikalien, Waffen und Munition, den Bombenbau, die Tarnung vor neugierigen Nachbarn und Bekannten, verschiedene Gelegenheiten, die Katastrophe doch noch zu verhindern. Auf 80 Seiten liefert sie dann eine dichte, minutiöse Chronologie des Massakers. Und am Ende schildert sie, wie rat- und hilflos Justiz, Politik und Psychologie schließlich blieben angesichts des Infernos, das Breivik hinterließ. Sie berührt auch den Schmerz der Hinterbliebenen, die Traumatisierungen der Davongekommenen, die Taktlosigkeiten von Jugendfunktionären, die Fehler und Versäumnisse der Polizei: „Das System hatte versagt.“

Asne Seierstad ist eine preisgekrönte literarische Reporterin, sie war Auslandskorrespondentin und Kriegsberichterstatterin. Sie begibt sich in die Krisengebiete der Menschheit, beschreibt das Leid, deutet die Ursachen, hält sich mit eigenen Urteilen zurück. So entstanden ihre großen Reportagen über Afghanistan („Der Buchhändler aus Kabul“, 2002), den Irak („Tagebuch aus Bagdad. Alltag zwischen Angst und Hoffnung“, 2003) und Tschetschenien („Der Engel von Grosny. Tschetschenien und seine Kinder“, 2009). Über ihr Heimatland Norwegen hatte sie bisher nie geschrieben, es war lediglich ihr „Rückzugsort“ nach ausgedehnten Auslandsaufenthalten. Erst als sie sich für den Gerichtsprozess gegen Breivik akkreditierte, versank sie schließlich in „die Geschichte eines Massenmörders“.

Mehr als 500 prallvolle, deprimierende Seiten hat sie verfasst, es ist ein Mosaik, eine Montage, eine dichte, sehr überzeugende Annäherung an die Wirklichkeit. Seierstad hat aus Akten zitiert, aus Gerichtsprotokollen, psychiatrischen Gutachten, sie hat mit vielen Zeitzeugen gesprochen und am Ende eine ungemein anschauliche Bestandsaufnahme veröffentlicht. Der Leser bleibt ratlos zurück. Die Verhältnisse sind, wie sie sind, und ein Breivik träumt davon, Vorbild für Nachahmungstäter zu sein.

– Asne Seierstad: Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders. Kein & Aber, Zürich 2016. 544 Seiten, 26 Euro.

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