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Schlussstrich? Zuschauer der Unterzeichnung des Friedensvertrages in Versailles am 28. Juni 1919.

© ullstein bild / Roger-Viollet

100 Jahre Erster Weltkrieg: Die Bürde von Versailles

Die Erwartungen an den Friedensvertrag überschritten jedes Maß. Deutschland sollte büßen – und wurde von den Siegern gedemütigt.

Als der Erste Weltkrieg nach mehr als vier Jahren am 11. November 1918 offiziell beendet war, begann das „Traumland der Waffenstillstandsperiode, wo jeder sich ohne die Bedingungen und realen Schlussfolgerungen des bevorstehenden Friedens die Zukunft phantastisch, pessimistisch oder heroisch ausmalen konnte“, beobachtete der Theologe Ernst Troeltsch Anfang 1919: „Die ganze Welt wird anders.“

Die Welt wurde anders, und wie anders sie wurde, beschäftigt uns bis heute. In den Verhandlungen, die zu den nach ihren Unterzeichnungsorten benannten Friedensschlüssen von Versailles bis Lausanne in den Jahren 1919 bis 1923 führten, wurden die Grundlinien gezogen, nach denen Europa, aber auch dessen ehemalige Kolonialreiche bis heute – und seit dem Fall des Ostblocks heute erneut – geordnet ist.

Zeitgenossen ahnten schlimme Konsequenzen

„Ein Erbe jener Zeit ist auch der Zusammenhang von Nationalstaat und Demokratie, von ethnischer Zugehörigkeit und Teilhabeversprechen, sowie die Gewalt im Namen von Ideologien und das moderne Verständnis von Staatenlosigkeit und Flüchtlingen“, schreibt der Freiburger Historiker Jörg Leonhard einleitend zu seinem monumentalen Buch „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923“. Auf 1270 Textseiten spürt Leonhard in denkbar umfassender Weise den Ursachen, dem Verlauf und den Folgen dessen nach, was unter den Hauptbeteiligten des Ersten Weltkriegs meist nur Versailler Vertrag heißt, tatsächlich aber ein ganzes Bündel von Verträgen umfasst, die aus Siegern Gewinner und aus Besiegten Verlierer machten.

Der Weg, der von Versailles zu Hitler und damit zum Zweiten Weltkrieg führte, wird heute nicht mehr, wie noch in der alten Bundesrepublik, ängstlich bestritten; zu offenkundig liegt er vor Augen. Nur dass er nicht zwangsläufig begangen werden musste, wendet Leonhard ein, darin einig mit dem Marburger Historiker Eckart Conze, dessen 550-Seiten-Buch „Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt“ sich auf die Pariser Verhandlungen des Jahres 1919 konzentriert. Auch Conze zitiert, wie Leonhard, Ernst Troeltsch und nennt gleich ein ganzes Kapitel „Im Traumland der Waffenstillstandsperiode“, ein Indiz dafür, wie treffend die Beobachtungen von 1919 waren: Man hatte wissen können, wohin der am Verhandlungstisch errungene Endsieg führen sollte. Ein anderer Kronzeuge ist der Ökonom John Maynard Keynes, der mit seiner Streitschrift „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“, 1919 geschrieben und schlagartig populär, einen „wirksamen Beitrag zur Diskreditierung und Delegitimierung des Versailler Vertrages“ leistete, wie Conze erstaunlich scharf urteilt.

Trotz Frieden blieb ein Kontinuum der Gewalt

Der Verlauf der Pariser Verhandlungen ist hinlänglich bekannt, zuletzt hat sie Andreas Platthaus plastisch geschildert (18/19. Der Krieg nach dem Krieg, Berlin 2017). Sie wurden denn auch – und darin liegt ein fundamentaler Unterschied zur vorangehenden Neuordnung Europas, dem Wiener Kongress von 1815 – vor aller Augen geführt und von einer voll entwickelten Medienindustrie bis in den letzten Winkel des Kontinents getragen. Darin aber bestand das Dilemma der Verhandler – von denen die besiegten Deutschen wie die anderen Verlierer vollständig ausgeschlossen blieben –, dass sie die ins Uferlose steigenden Erwartungen ihrer jeweiligen Öffentlichkeit gar nicht erfüllen konnten. „Der wachsende Mobilisierungsdruck und die Lasten an der militärischen wie an der Heimatfront“ – bilanziert Leonhard – „befeuerten die Vorstellung eines Sieges, der allein alle Anstrengungen rechtfertigen konnte.“ Das schloss ab 1917 „Konzessionen und einen Verhandlungsfrieden aus (...).“

Leonhard in seinem ausgreifenden Werk hat den Platz, das brodelnde Umfeld der Verhandlungen zu beleuchten. Das sind die verschiedenen Länder und ihre Gesellschaften in jenem prekären Übergang zur Nachkriegszeit, da die ebenso demobilisierten wie oft nicht nur in den Verliererstaaten demoralisierten Soldaten heimkehren, „das Kontinuum der Gewalt“ aber bleibt. Manche Staaten, für die die Soldaten ausgezogen waren, existieren schon seit Ende 1918 nicht mehr oder lösen sich gerade auf.

Hinzu kam etwas Unbeeinflussbares: die Spanische Grippe, eine Pandemie, die mit schätzungsweise 20 Millionen Toten weltweit mehr Opfer forderte als der gesamte Krieg. Sie ist erst in jüngerer Zeit als Einflussfaktor erkannt worden (zuletzt Laura Spinney: 1918 – Die Welt im Fieber, München 2018). Leonhard beginnt sein Buch genau damit und nennt sie ein „welthistorisches Ereignis“, das freilich erst im Rückblick als solches erkennbar wurde.

Die ganze Dramaturgie der Verhandlungen in Paris, als Höhepunkt dann die Inszenierung der Vertragsunterzeichnung durch Sieger und Besiegte, war auf Triumph über die Deutschen angelegt. „Die ganze Veranstaltung war aufwendig geplant und so inszeniert, dass sie für den Gegner die größtmögliche Demütigung darstellte“, wie Wilsons Berater dem US-Präsidenten aus Paris kabelte.

Das wird von beiden Autoren minuziös geschildert; zugleich aber verdeutlichen sie, wie eng die Handlungsspielräume der Sieger waren, schon allein, weil sie sich untereinander argwöhnisch belauerten. Frankreich war wirtschaftlich abhängig, Großbritannien fiel sein überspanntes Imperium zur Last, beider Gläubiger waren die USA als eigentlicher Sieger, der jedoch – von Wilson abgesehen – an der Überwachung der Nachkriegsordnung kein Interesse zeigte. Italien nervte mit Gebietsforderungen, der Balkan blieb wie seit jeher ein Brandherd. Die theatralische Vorführung der deutschen Delegation gerann zum einzig sichtbaren Beweis, den Krieg gewonnen zu haben und so den eigenen Opfern Sinn zu verleihen.

Kolonien blieben Bittsteller bei ihren imperialen Herrschern

Wenngleich klar war, „dass der Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich im Mittelpunkt der Konferenz stand und sich die folgenden Verträge an ihm orientieren würden“ – so Leonhard –, griffen doch die Verhandlungen weit darüber hinaus. Die Pariser Vorortverträge besiegelten, was gern übersehen wird, das Schicksal der beiden Vielvölkerstaaten Habsburgermonarchie und Osmanisches Reich. Das Zarenreich war bereits im Februar 1917 von einer bürgerlichen Revolution beseitigt worden, deren bolschewistische Nutznießer mit der Zergliederung des Staates zurechtkommen mussten.

Beide Autoren, Conze wie Leonhard, widmen dem jahrzehntelang unbeachteten Schicksal der Kolonialreiche Frankreichs und Großbritanniens umfangreiche Betrachtungen. Conze bringt den – als Nebenergebnis geschaffenen – Völkerbund und „die Kontinuität imperialer Herrschaft“ in engen Zusammenhang. Die inoffiziellen Vertreter der Kolonien blieben bloße Bittsteller und wurden nicht gehört; das vielbeschworene Selbstbestimmungsrecht war für sie nicht gedacht, geschweige denn gemacht.

„Nicht die Idee nationaler Selbstbestimmung, sondern imperiale Machtansprüche leiteten die Pariser Politik der Großmächte, deren koloniale Reiche sich nach dem Ersten Weltkrieg noch einmal vergrößerten“, betont Conze. Leonhard führt im Einzelnen aus, wie sich die Situation im zerfallenen Osmanischen Reich, in den Gebieten des Nahen und Mittleren Ostens entwickelte; mit den bekannten, ungelösten und wohl unlösbaren Folgen bis auf den heutigen Tag. Die Türkei ist dann der einzige Staat, nunmehr ethnisch und religiös homogen, der eine noch dazu weitgehende Revision seines Vertrages erreicht, faktisch durchgesetzt durch Krieg und ethnische Säuberung: 1923 in Lausanne wird die moderne, kemalistische Türkei anerkannt.

In Paris wurde „kaum eines der Probleme, mit denen die drei Imperien in den Jahrzehnten vor dem Krieg zu kämpfen hatten, durch den Frieden gelöst“, bilanziert Conze: „Für die Frage nach der Koexistenz verschiedener ethnischer Bevölkerungsgruppen boten der Imperativ des Selbstbestimmungsrechts der Völker und einer Politik der Nationalisierung keine befriedigende Lösung, im Gegenteil: Ethnische Auseinandersetzungen und Minderheitenprobleme verstärkten sich, und die Idee des ethnisch homogenen Nationalstaats, auf dem die neue mittel- und südosteuropäische Ordnung gründete, trug zu einer Steigerung von Konflikten und Gewalt bei, zu Kriegen, Bürgerkriegen, Pogromen und Vertreibungen “. Deutlicher kann man nicht ausdrücken, dass und wie sehr die als Grundlage eines gerechten Friedens betrachtete Idee des Selbstbestimmungsrechts – von Wilson nicht wörtlich vertreten, aber in seinem Namen erhoben – in ihr Gegenteil allseitiger, hasserfüllter Revisionsbegehren umschlug. Über den „versehrten Frieden“ wütete Italien, formal ein Siegerstaat, und ließ 1922 Mussolini und seinen Putsch gewähren, und bald sah selbst Frankreich, der Triumphator der Vertragsunterzeichnung im Versailler Spiegelsaal, den Sieg an den Schwierigkeiten seiner Durchsetzung gegenüber der von Konflikten geschüttelten Weimarer Republik zerrinnen.

Weder Conze noch Leonhard sind Deterministen, die die Friedensjahre als bloße Zwischenkriegszeit verachten, nach der ein weiterer Krieg folgen musste. Die in Deutschland wuchernde „Dolchstoßlegende“ („Im Felde unbesiegt“), die im ganzen politischen Spektrum bis hin zur ultralinken KPD virulent war, trug zur Machtübernahme Hitlers bei, doch diese sei, so Conze, „nicht durch Versailles zu erklären und schon gar nicht eine direkte Folge des Versailler Vertrages. Wohl aber war sie (...) ein Ergebnis der politischen und ideologischen Instrumentalisierung des Vertrages“ mit dem Ziel, „die Republik zu diskreditieren und die Demokratie zu zerstören.“ Wie man es auch dreht und wendet, der Versailler Vertrag war der Anstoß, der den Prozess der neuerlichen Zerstörung Europas in Gang setzte.

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