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Postkolonialer Vordenker. Achille Mbembe.

© Heike Huslage-Koch

Literatur nach dem Eurozentrismus: Das Wort im Fleisch

Was, bitteschön, ist heute europäische Literatur? Die Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter" weiß Antworten.

Von Gregor Dotzauer

Über den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs lag noch die Erinnerung an Gasgeruch und Pulverdampf, als der Dichter Paul Valéry genau zwei Möglichkeiten sah. „Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist“, fragte er 1919 in seinem Essay „Die Krise des Geistes“, nämlich „ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlands? Oder wird Europa das bleiben, was es zu sein scheint, nämlich: der kostbare Teil des irdischen Universums, die Perle der Kugel, das Gehirn eines riesigen Körpers?“
Hundert Jahre nach diesen von Depression und Hochmut kündenden Sätzen rollt ihr Echo noch immer durch die Selbsterforschungsprozeduren des Kontinents. Auch die jüngste Ausgabe von „Sprache im technischen Zeitalter“ (Nr. 32, vandenhoeck-ruprecht-verlage.com, Einzelheft unter zeitschriften@brocom.de) kommt nicht ganz ohne jenen borderlinehaften Schauer aus, der Valéry erfasst hatte. Sie verleiht ihm allerdings eine entschieden zeitgenössische Note.

Unter dem Titel „Europa und seine Grenzen“ rekapituliert die Zeitschrift ein Schriftstellertreffen des Literarischen Colloquiums Berlin und des Centre Marc Bloch, das Valérys Erschütterung im Licht postkolonialer Erdbeben allerdings geradezu lächerlich wirken lässt. In einer 15-seitigen Tour de force trägt der Romanist Wolfgang Asholt zusammen, wie sehr die Selbstgewissheiten einer europäischen Literatur geschwunden sind, die einmal glaubte, sich zum Modell aller anderen Literaturen aufschwingen zu können. Der ideengeschichtliche Bogen, den Asholt zusammen mit Markus Messling auch in einem zweiten Essay entwickelt, führt dabei von Valéry zu Erich Auerbach, dem vor den Nazis nach Istanbul geflohenen Literaturwissenschaftler.

Selbstverunsicherungskaskaden eines algerischen Juden

Auerbach beschwor in seinem 1946 erschienenen Opus magnum „Mimesis“ sozusagen mit Panoramaaussicht auf die anatolischen Landmassen und die am Horizont aufscheinenden asiatischen Unendlichkeiten ein letztes Mal die unumstößliche Größe eines realistischen Erzählens, das Virginia Woolf und James Joyce, Robert Musil und Hermann Broch längst kassiert hatten.

Weiter geht es zu den Selbstverunsicherungskaskaden des algerischen Juden Jacques Derrida, der in „Das andere Kap“ die Idee einer europäischen Identität (oder vielmehr „die Idee einer Idee“) zugleich nachzeichnet und durchstreicht. Von Edward Saids Studie zum eurozentrischen „Orientalismus“ führt er schließlich zur „Kritik der schwarzen Vernunft“ des kamerunischen Denkers Achille Mbembe.
Das Herzstück des Hefts ist eine Diskussion, die Markus Messling mit drei Schriftstellern von hybrider Prägung führt. Seine Gäste Mathias Énard, der in Barcelona lebende Franzose mit arabischen Passionen, der vor dem Bürgerkrieg seines Geburtslandes Sri Lanka nach Deutschland geflohene Senthuran Varatharajah und die Berliner Palästinenserin Adania Shibli erkunden, was „Nach dem Orientalismus“ kommt.

Weltliteratur unter postkolonialen Vorzeichen

Messling hat darauf im vergangenen Jahr mit „Universalität nach dem Universalismus“ (Matthes & Seitz) schon Vorschläge gemacht. Am Beispiel frankophoner Autorinnen und Autoren zeigt er, wie unter postkolonialen Vorzeichen ein neuer Begriff von Weltliteratur entstanden ist. Und er führt dabei Namen ein, von denen man hierzulande bisher kaum gehört hat: den aus Togo stammenden Kossi Efoui, den kanadischen Libanesen Wajdi Mouawad oder die aus Kamerun stammende Erzählerin Léonora Miano.
Am spannendsten ist, wie sich das Podium darüber einig ist, wie physisch Kulturwechsler Sprache erleben.

Senthuran Varatharajah zitiert die Deutsch-Japanerin Yoko Tawada mit den Worten: „Die erste Generation von Migranten, die im Ausland aufwächst, sieht anders aus, weil die Sprache anders durch den Körper gegangen ist – weil das Wort anders Fleisch geworden ist.“ Er, der mit dem Altgriechischen auf besserem Fuß steht als mit dem Tamilischen und sich Hegel näher fühlt als der Rigveda, erfuhr es, als er in Jaffna, seiner angeblichen Geburtsstadt, von vielen Einheimischen für einen Amerikaner gehalten wurde.

Markus Messling stellt sein Buch "Universalität nach dem Universalismus" am Montag, den 27. Januar, um 19 Uhr im Seminarzentrum der Silberlaube der Freien Universität (Otto-von-Simson-Str. 26, 14195 Berlin) im Gespräch mit Ulrike Schneider vor. Die Veranstaltung findet in französischer Sprache statt.

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