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Der Nase nach. Blick von einem Fischerkahn aus in die Weiten des Po-Delta.

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Literatur für die Sommerferien: Die Welt als Freilichtbühne

Wer liest, verreist in Gedanken, erschließt ferne und nahe Regionen: Fünf literarische Empfehlungen für die Sommerferien.

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Fremdes Terrain im Nahbereich, den Wald erkunden, den vor lauter Bäumen keiner sieht. Das Unterwegs liegt immer fern genug, wenn man nur die Willenskraft dafür besitzt. Ein paar Wochen lang hat sich Paolo Rumiz auf einer winzigen Insel im Mittelmeer verkrochen, deren Namen er nicht preisgibt. Der 70-jährige Reporter und Schriftsteller stammt aus Triest, und nicht nur das lässt vermuten, dass Der Leuchtturm, wie sein schönes und schroffes Einsamkeitsbuch heißt, irgendwo vor der kroatischen Küste liegt.

Egal, er will im Nirgendwo sein, aus der Zeit fallen oder in eine andere hinein, die Natur beobachten, die Wetter, ohne High-Tech-Hilfsmittel. Es ist der erfüllte Traum dieses Reisenden und Schreibenden, den man gern teilen würde – festzusitzen auf einem anonymen Felsen, vor sich selbst versteckt.

Paolo Rumiz unternimmt die Reisen, auf die keiner kommt, die ihn weit bringen. Sein jetzt auf Deutsch erschienenes Buch Die Seele des Flusses, wieder im südtiroler Folio Verlag und wieder übersetzt von Karin Fleischanderl, erzählt wie im Mythos von großer Fahrt. Die Argonauten springen mit in sein Boot und irgendwie auch Odysseus. Und der in Ferrara geborene Michelangelo Antonioni, dessen Filme die Po-Ebene verewigt haben. Mit ein paar Freunden paddelt und segelt Rumiz auf dem Po quer durch Norditalien. Kein Mensch wirft sich auf den Fluss zum Vergnügen, wie sie bald feststellen. Sie tun etwas absolut Ungewöhnliches, tauchen ein in ein Reich, das von seinen Anwohnern gar nicht wahrgenommen und gemieden wird.

Dem Gesang des Wassers lauschen, nach Worten suchen für das Spiel der Wolken – die Reise durch das naturschöne, oft in Nebel gehüllte norditalienisches Industrieland ist nicht ungefährlich und hält vielerlei Überraschungen bereit. Bei Mantua, auf halber Strecke, stinkt es bestialisch, jemand hat den Dreck einer Schweinemast in den Fluss gekippt.

Sie rauschen auf Staumauern zu, umfahren abgekippten Schrott, Waschmaschinen und Autowracks, und das sind nur die wahrnehmbaren Zeichen der Umweltzerstörung. „Einen Fluss lernt man erst kennen, wenn man ihn befährt“, sagt Rumiz. 700 Kilometer werden sie zurücklegen, bis zum Delta, bis zur Adria, auf Nebenarmen, um dem „Geheimnis beizuwohnen, wie aus einer Linie Raum wird.“ Und nebenbei essen sie gut und ausgiebig und trinken guten Wein, am Ufer, bei Menschen, die gute Geschichten erzählen. Wer will schon ankommen, wer will wieder nach Hause? Das Beste an Rumiz’ Abenteuern ist: Sie sind einzigartig, lassen sich nicht wiederholen. So wie man einen Roman nicht nachahmen kann im eigenen Leben. Rüdiger Schaper

Ted Bishop: Riding with Rilke

Um ehrlich zu sein: Ted Bishops Riding with Rilke müsste eigentlich „Wandering with Woolf“, „Rejoicing with Joyce“ oder „Lingering with Lawrence“ heißen. Das kleine Zitat aus den „Duineser Elegien“, das der kanadische Literaturprofessor im Epilog unterbringt, hat zwar Gewicht, täuscht über die wahren Schwerpunkte dieses Roadtrips von Edmonton, Alberta, nach Austin, Texas, hinweg.

Aber so ist es natürlich viel einleuchtender, dass es hier um „Reflections on Motorcycles and Books“ geht. Und die mit der Anmerkung zitierten Zeilen, dass Rainer Maria Rilke sie ganz anders geschrieben hätte, wenn er denn Motorrad gefahren wäre, haben im Hinblick auf die Unendlichkeiten, die Bishop auf einer Ducati Monster durchquert, zweifellos ihren Charme: „Das freie Tier / hat seinen Untergang stets hinter sich / und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts / in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen. // Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag, / den reinen Raum vor uns, in den die Blumen / unendlich aufgehn.“

Dafür kann Ted Bishop vermelden, dass Virginia Woolf nach misslungenen Autofahrversuchen offenbar davon träumte, ein Motorrad zu erwerben. „Riding with Rilke“ (W.W. Norton & Company) interpretiert die Einsamkeit des Literaturwissenschaftlers, der in die Archive steigt, als die Kehrseite jener Einsamkeit, die der Biker erlebt: Beide können sich in Gesellschaft befinden und sind doch einer ohrenbetäubenden Stille ausgesetzt. Und sie machen, jeder auf seine Weise, eine physische Erfahrung: Bishop beschreibt, wie er zum ersten Mal Woolfs handschriftliche Selbstmorderklärung in Händen hält. Einen Text, den er wie jeder Woolf-Forscher fast auswendig kannte, von ihm und nun doch noch einmal überwältigt wird.

Auch die Körperlichkeit der Maschine beschwört dieses charmante Stück travel writing mit Bravour. Dieses aus dem Jahr 2005 stammende und leider nie auf Deutsch erschienene Buch kommt gleich nach Robert M. Pirsigs „Zen oder Die Kunst ein Motorrad zu warten“. Ted Bishop erweist dem berühmten Paradebeispiel der Verbindung von Denken und Fahren auf zwei Rädern sogar ausdrücklich seine Reverenz. Gregor Dotzauer

Christian Kracht: Faserland

Warum nicht eine Reise durch Deutschland? Nicht einfach nur in irgendein Mittelgebirge oder an Nord- oder Ostsee, sondern von Nord nach Süd, wahlweise vice versa, von Sylt bis an den Bodensee und dann noch rüber nach Zürich, und zwar mit Auto, Bahn und Flugzeug.

So wie es Christian Kracht in den frühen neunziger Jahren gemacht hat. Oder vielmehr der Ich-Erzähler seines Debütromans Faserland. Dieser ist ein postpubertierender Nihilist, der sich eher zufällig auf eine sentimentale Reise durch die Republik begibt, eine gewisse Faschismus-Fixierung hat und die Welt primär von einer ästhetischen Warte aus betrachtet. Die Verkehrsmittel, die er benutzt, sind insofern stets Zielscheibe diverser Ätzereien – oder ihr Ausgangspunkt. So wie der Abendzug nach Hamburg, ein ICE der ersten Generation, also neu, „dessen Einrichtung ganz grauenvoll ist und mich immer an irgendwelche Einkaufspassagen erinnert“, in dem „gar nichts mehr schön ist und erst recht gar nichts mehr so wie früher“.

Wer wandert, findet im Unterwegssein zu sich selbst

Der Nase nach. Blick von einem Fischerkahn aus in die Weiten des Po-Delta.
Der Nase nach. Blick von einem Fischerkahn aus in die Weiten des Po-Delta.

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Oder die Maschine von Hamburg nach Frankfurt. Hier erinnert sich der Kracht- Dandy, dass er schon als kleiner Junge immer gern geflogen ist, weil er „dieses Gefühl der Wichtigkeit liebte, das die Reisenden umgab.“ Dieses Gefühl stellt sich am Sicherheits-Check sofort wieder ein, wohl wissend, dass „es nichts Schlimmeres gibt als den Morgenflug von Hamburg nach Frankfurt“, mit all den Betriebsräten und ihrem „nonchalanten Lächeln“, ihren „bunten Krawatten“ und „senffarbenen Sakkos“.

Und schließlich im Auto, einem Porsche, auf dem Weg von München nach Lindau an den Bodensee, „auf dieser endlosen Autobahn“. Hier erzählt ihm Freund Rollo von Berliner Autonomen, die Fiat Unos nach Afrika überführen, um Geld zu verdienen, und irgendwann schlängeln sie mit Tempo 40 am Ufer des Sees entlang, „aber die Leute trauen sich ja nicht zu hupen, wenn man mit einem Porsche vor ihnen ganz langsam fährt.“

Deutschland ist schön, aber auch hässlich, mal so rein ästhetisch besehen. Wer viel im ICE oder auf Flughäfen herumsitzt, der weiß, dass sich da in den letzten zwanzig, fünfundzwanzig Jahren nicht so viel geändert hat. Gerrit Bartels

Hunter S. Thompson: Angst und Schrecken in Las Vegas

Auf ihrer sagenhaften Reise von Los Angeles nach Las Vegas verheizen der Journalist Raoul Duke und sein samoanischer Anwalt, Dr. Gonzo, zwei glitzernde Mietwagen. Mit einem roten Chevrolet-Cabrio, „the Great Red Shark“, und einem weißen Cadillac Coup de Ville „the White Whale“, mit Hai und Wal, jagen sie durch den Südwesten Amerikas.

Das Handschuhfach voll Drogen schmuggeln sie sich unter die Teilnehmer einer Konferenz von ultrakonservativen Bezirksstaatsanwälten. Sie feiern Orgien, prellen die Zeche, stellen ungedeckte Schecks aus und begehen Fahrerflucht. In einem der Vegas-Hotels stranden die Fahrer mit einer Anhalterin, einem restlos verstörten und naiven Hippiemädchen, das so manisch wie schlecht ununterbrochen Portraits von Barbra Streisand zeichnet und von Dr. Gonzo sexuell ausgebeutet wird.

Im Wechsel mit verwegener Konfrontation und schockierter Flucht begegnen Duke und Gonzo den Zumutungen der Realität. Hunter S. Thompsons „Fear and Loathing in Las Vegas. A Savage Journey to the Heart of the American Dream“ erschien zuerst als Serie der Zeitschrift „Rolling Stone“, als Buch wurde Angst und Schrecken in Las Vegas ein Klassiker der Popliteratur.

„Wal“ wie „Hai“ stehen für Automobilität als Autonomie und sind zugleich monströse Symbole kapitalistischen Größenwahns. Wie Amerikas Linke heute gegen die Ära Trump rebelliert, so verabscheute Thompson Nixons Amerika und dessen Vietnam-Krieg.

Dieser Krieg wird hier nur einmal angedeutet, als im Hintergrund eines Hotelzimmers flimmernde Fernsehnachricht. Umso stärker wirkt seine Präsenz. Thompsons Gonzo-Journalismus war die politisch bewusste, radikale Rücksichtslosigkeit gegenüber politisch unbewussten, radikal falschen Haltungen.

Sein experimenteller, befreiender und riskanter Stil flog über alles hinweg, was damals etabliert und erlaubt war. Es nahm bekanntlich kein gutes Ende mit Hunter Thompson (1937 – 2005). Er brachte es sich selber bei. Aber Raoul Duke lebt. Caroline Fetscher

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser

Aufzubrechen heißt hinausgezogen zu werden, dem Sog zu folgen, der von der Ferne ausgeht. Jedenfalls wenn man das Reisen als romantisches Wagnis versteht. „Und einst, da sie an einem warmen aber trüben Morgen vors Tor hinausgingen, sagte I., dies wäre gutes Wetter davon zu gehen – und das Wetter schien auch so reisemäßig, der Himmel so dicht auf der Erde liegend, die Gegenstände umher so dunkel, gleichsam als sollte die Aufmerksamkeit nur auf die Straße, die man wandern wollte, hingeheftet werden.“ Die Welt ist verdunkelt, aber der Weg, der aus ihr herausführt, leuchtet.
Karl Philipp Moritz schreibt im Anton Reiser, seinem 1785 bis 1790 in vier Bänden veröffentlichten „psychologischen Roman“, der eigentlich eine traurigschöne Autobiografie ist, so sehnsuchtsvoll vom Davongehen, dass man am liebsten gleich mit ihm loswandern möchte. Man muss wissen, dass die obige Szene in Hannover spielt, wo der Schriftsteller unglückliche Jahre als Stipendiat am Ratsgymnasium verbrachte. Hannover ist einer dieser Ort, die wahrscheinlich nur erfunden wurden, um verlassen zu werden. Peter Handke, ebenfalls ein leidenschaftlicher Zu-Fuß-Geher, war von Moritz’ Worten so berührt, dass er sie seinem „Kurzen Brief zum langen Abschied“ als Motto voranstellte.

Auf den Weg gemacht hat sich Karl Philipp Moritz erst später, er ging von Hannover über Hildesheim, Seesen, Duderstadt, Nieder-Orschel und Mühlhausen nach Gotha, wo er vergeblich versuchte, Schauspieler zu werden, um schließlich, sich als Student aus Göttingen ausgebend, an der Theologischen Fakultät von Erfurt zu landen.

Wer wandert, findet im Unterwegssein zu sich selbst. Moritz, dem als Kind beinahe ein entzündetes Bein amputiert worden wäre, beschreibt 1783 in seinem Bestseller Reisen eines Deutschen in England voller Euphorie eine Paradieslandschaft, die gleich außerhalb von London beginnt: „Unter meinen Füßen das weiche Grün, an der einen Seite ein Wald, den die Natur nicht schöner hervorbringen kann, und an der anderen die Themse, mit ihrem jenseitigen Ufer, das sich wie ein Amphitheater empor hob.“ Die Welt als Freilichtbühne. Wer sie durchquert, kann gar nicht aufhören zu staunen. Christian Schröder

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