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Symbole des Friedens - nicht nur für Orwell. Rosen bei einer Gedenkveranstaltung für die friedliche Revolution in der DDR 1989 an der Gedenkstätte Berliner Mauer 2016.

© picture alliance / dpa

Literarische Essayistik: Schönheit ist Widerstand

Und die Freude daran eine Quelle der Energie: Rebecca Solnit begegnet dem Rosenzüchter George Orwell.

Nicht nur Tiere, auch Pflanzen sind Objekte profitmaximierender Intensivhaltung. Pro Quadratmeter 104 Rosen – das ist der Jahresertrag in einem Gewächshaus der kolumbianischen Blumenindustrie. Vor einigen Jahrzehnten etabliert und von der Regierung gefördert, sollte das Geschäft mit den Blumen jenes mit Kokain verdrängen - was nicht gelang. Stattdessen entstand eine Branche, die ebenfalls sehr viel Wert auf Geheimhaltung legt und Umweltschützern den Zutritt zu den Gewächshäusern weitgehend verweigert.

Der US-amerikanischen Autorin Rebecca Solnit gelang es schließlich doch, eine dieser Zuchtanstalten in Augenschein zu nehmen. Was sie sah, schildert sie unter dem Titel „In der Rosenfabrik“, einem zentralen Kapitel ihrer jüngsten großen essayistischen Erzählung „Orwells Rosen“. Auf wenigen Seiten verdichtet sie den Fertigungs- und Vermarktungsprozess zu einer fast filmisch präzisen Reportage.

[Rebecca Solnit: Orwells Rosen. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 352 Seiten, 24 €.

Es sind Bilder, die sich beim nächsten scheinbar arglosen Blumenkauf unweigerlich aufdrängen werden. Rosen über Rosen, zu dichten Hecken zusammengepfercht. „Jeder Stock wurde mit Hilfe von Schnüren, die zwischen Holzpflöcke gespannt waren, aufrecht gehalten. Das Ganze hatte etwas Beengtes, Bedrängtes.“ Nicht Verwertbares, Blätter, Blüten, Stiele bedecken die Böden, landen im Abfall. „Die meisten kommerziell genutzten Rosen öffnen sich nie ganz und werden als Knospen vermarktet – wie eine spitze Schrotkugel aus dicht gepackten Blütenblättern am Ende eines langen Stiels. Im Dutzend sehen sie aus wie Köcher mit grellfarbigen Pfeilen.“

Symbol der Entfremdung

Kurz vor dem Valentinstag werden aus diesem Gewächshaus -Konglomerat sechs Millionen Rosen in die USA ausgeflogen und landen am Ende bei Menschen, die „keine Ahnung haben, woher diese Supermarktrosen stammen – gibt es ein besseres Symbol für Entfremdung?“, fragt Solnit und beschließt das Kapitel mit einem Zitat von George Orwell. Anfang des Jahres 1936 schrieb der Schriftsteller an einem Buch über das Leben der Bergarbeiter im Norden Englands. Und doch gestand er: „Nur ganz selten und mit einer entschiedenen gedanklichen Anstrengung bringe ich die Kohle mit der Arbeit weit weg in den Bergwerken in Verbindung.“

Im selben Jahr hatte er ein Häuschen im Dorf Wallington in Hertfordshire gemietet, zog Gemüse, hielt Hühner und Ziegen – und pflanzte Rosen. Damit schließt sich ein Kreis, wieder ist Solnit an den Ausgangspunkt ihrer Erzählung zurückkehrt. Zu Orwell im Jahr 1936. Dem Schriftsteller, der Rosen pflanzt.

„Orwells Rosen“ taucht tief in das Werk und das Leben des Schriftstellers ein, fügt den Biografien über den Autor des Romans „1984“ jedoch keine weitere hinzu. Vielmehr begegnet die 1961 geborene Essayistin Rebecca Solnit dem 1950 im Alter von 46 Jahren gestorbenen Schriftsteller als Geistes- und Seelenverwandte, ohne sich distanzlos an dessen Seite zu stellen. Ihre Orwell-Lektüre begann früh.

Falsche Umarmungen

Schon mit elf Jahren hatte sie „Farm der Tiere“ gelesen, wenig später dann „1984“, den dystopischen Roman über die Herrschaftsmechanismen eines totalitären Staats. Nun ist Big Brother längst sprichwörtlich geworden, und selbst demokratiefeindliche Gruppierungen führen Orwell im Mund. Rebecca Solnit aber löst Orwells Totalitarismus-Analyse aus falschen Umarmungen und ermöglicht mit ihrem Buch eine aufregende Neu- oder Wiederentdeckung.

Diese beginnt ganz konkret, als Suche nach dem, was von Orwells Rosen, dem Garten und den von ihm gepflanzten Bäumen in Wallington geblieben ist. Es sind nur ein paar vermoderte Baumstümpfe, und doch sind sie Ausgangspunkt einer Reflexion über die Bedeutung von Gartenarbeit weit über ihren Nutzen hinaus. Orwell war arm, als er nach Wallington zog, ein kleiner Krämerladen und der Garten sicherten sein Überleben und ließen ihm Zeit zum Schreiben.

In einer Selbstdarstellung bekundete Orwell: „Neben meiner eigentlichen Arbeit schätze ich am meisten die Gartenarbeit, und davon besonders den Gemüseanbau.“ Noch in seinen letzten Jahren, bereits todkrank, kümmerte er sich unter größter Anstrengung um einen Garten. Ohne ihm Eigenschaften zuzuschieben, die sich nicht belegen lassen, betont Solnit die „Freude“ als eigentlichen Antrieb für Orwell.

Das mag auf den ersten Blick banal klingen, ebenso wie die Gegenüberstellung von Gartenarbeit und dem „undurchsichtigen Geschäft“ des Schreibens, das nie zu einem Ende kommt. Doch in die Falle von therapeutischem Erdungsgerede tappt Solnit nicht. Orwells Freude an Pflanzen, Blumen und Tieren, dem „Antlitz der Erde“, wie er schreibt, ist die Freude, die aus der Hinwendung zum Konkreten, zum Lebendigen entsteht.

Akt des Widerstands

Genau darin sieht Orwell – und mit ihm Solnit – einen Akt des Widerstands. Widerstand gegen jene Kräfte, die Menschen dazu auffordern oder dazu zwingen, „der Beweiskraft der eigenen Augen und Ohren nicht zu traue“, wie es in „1984“ heißt. Das Vergnügen am Lebendigen, am Schönen aber macht immun gegen jede Ideologie.

Orwell kannte die Destruktivität von Imperialismus und Kolonialismus aus eigener, herkunftsbedingter Anschauung. Er machte sich nicht gemein, nicht mit den Kommunisten noch mit deren Gegnern. Aber er kämpfte für einen „demokratischen Sozialismus“, auch das konkret und im Jahr 1936: als Soldat im Spanischen Bürgerkrieg.

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Rebecca Solnit hat mit „Orwells Rosen“ ein ebenso politisches wie poetisches Buch geschrieben. In weitgespannten Bögen erkundet sie das Verhältnis zwischen Menschheit und Natur, das, wie spätestens seit den 1970er Jahren bekannt, ein Ausbeutungsverhältnis ist. Doch das Naheliegende, Fühl- und Sichtbare – wie die Klimakatastrophe – macht Solnit noch greifbarer, indem sie ihren Blick auf scheinbar längst Vergangenes richtet, das Karbonzeitalter und den Kohlebergbau.

„In den Menschen von 1936 war die Zuversicht so tief verankert wie eine noch nicht ans Tageslicht beförderte Bewusstseinsschicht. Die Erde galt als groß und widerstandsfähig genug, um die durch uns erlittenen Schäden wegzustecken, die im Übrigen immer lokal begrenzt sein würden“, schreibt sie. Im Verlust dieser Zuversicht aber liegt Hoffnung. Davon ist Rebecca Solnit überzeugt.

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