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Digital gestreckt. Andy Warhols Serie „25 farbige Marilyns“ (1962) aus dem Museum of Modern Art in Fort Worth/Texas mit fünf Bonusblondinen.

© akg-images

Lifelogger: Ich war einmal ein Datenträger

Identität, Retusche, Lifelogging: Wie man mit digitalen Autobiografien der Erinnerung ein Schnippchen schlägt.

Das Netz vergisst nichts, heißt es immer, aber das ist Unsinn. Wenn überhaupt, merkt sich das Netz das Falsche. Die vorletzten Aushilfsjobs: Sind immer noch da. Die aufwühlende private Korrespondenz vom Sommer 1999 bleibt dagegen verschollen im Onlinenirwana. Die Antwort auf solche ungewollten Lücken gibt es schon lange, sie heißt Lifelogging und meint die maximale private Vorratsdatenspeicherung. Als Erfinder dieser Vision gilt der amerikanische Ingenieur Vannevar Bush, der 1945 eine Lebensdatensammelmaschine, genannt Memex, entwarf. Ihm folgten in den neunziger und nuller Jahren etliche Männer mit komischen Geräten um den Hals. Der Bekannteste ist Gordon Bell, der seit 2001 MyLifeBits testet, ein Totalerinnerungssystem aus dem Hause Microsoft. 2009 ist das Buch zum Projekt erschienen: „Total Recall. How the E-Memory Revolution will change everything.“

Tatsächlich ist der Anspruch der Lifelogger-Avantgarde so einfach wie irrwitzig: Alles soll mitgeschnitten werden, nichts darf verloren gehen. Angefangen von den gewöhnlichen Aktivitäten, Begegnungen, Gesprächen, Mahlzeiten über das gesamte Mediennutzungsverhalten bis hin zu Standort- und Bewegungsprotokollen, Puls, Körpertemperatur usw. Der perfekt verkabelte Chronist wüsste: Als ich vor 489 Tagen mit Freund A an Kreuzung B stand, sprach ich von C. Und mein Herz schlug höher.

Trotzdem: Vom baldigen Durchbruch einer Selbstüberwachungssoftware kann keine Rede sein. „Lifelogging kommt“, prognostiziert zwar auch Stefan Selke, Professor für Mediensoziologie an der Hochschule Furtwangen, „aber eher in einer weichen, individuellen Variante.“ Im gerade erschienenen Sammelband „Postmediale Wirklichkeiten aus interdisziplinärer Perspektive“ (Heise Verlag) untersucht Selke dieses partielle Lifelogging. Denn die persönlichen Lebensspuren auf den Servern nehmen auch ohne Memex-Maschine ständig zu. Das fängt mit der privaten Urlaubs- und Familienfotografie an, reicht über Filme und Texte und endet bei E-Mail-Accounts und sozialen Netzwerken.

Der Wunsch nach Unvergänglichkeit ist nicht neu. Nur kann er heute in ganz anderen Dimensionen ausgelebt werden. Google Mail zum Beispiel ermuntert seine Nutzer ausdrücklich, alle E-Mails für immer aufzubewahren. Auch bei Facebook können seit einigen Wochen die Inhalte des eigenen Profils samt Postings von Freunden und Kommentaren von Freundesfreunden als Zip-Datei heruntergeladen werden. Interaktionsschnappschüsse, festgehalten für die Ewigkeit.

Warum nicht, Speicherkapazität ist billig und ausreichend vorhanden. An Platzmangel muss heute keine ambitionierte Ich-Dokumentation mehr scheitern. Auch nicht an fehlender Technik. Das schafft das Smartphone mittlerweile fast im Alleingang. Das Ding in der Hosentasche kann aufzeichnen, wegpacken und bei Bedarf wieder hervorholen.

Genau hier aber liegt das Problem. Denn die Herausforderungen des Datensammelns stecken weniger im Speichervorgang selbst, als vielmehr in der richtigen Archivierung. Nach welchen Kriterien soll der täglich größer werdende Heuhaufen sortiert werden – nach Jahren, Orten, Personen, Tätigkeiten? Und wer übernimmt diese Arbeit?

Der amerikanische Computerwissenschaftler David Gelernter hat dazu schon vor Jahren eine Theorie entwickelt: Alle persönlichen Daten sollten künftig an einem Lifestream entlang angeordnet werden: „Alle unsere Mitteilungen, Dokumente, Fotos, Videos werden ein Lebensstrom in der Wolke sein; ein Strom, den man einschalten kann wie einen Fernseher oder Computer.“

Die Zukunft ist ein Band, an dem Erledigungen aufgefädelt werden. Die Vergangenheit fungiert als Echtzeit-Ablage. Und im Jetzt sitzt das Ich vor einem Bildschirm und hangelt sich an seiner Zeitachse entlang. In solch einem digitalisierten Lebensstrom, so Gelernter weiter, wären auch Stichwortsuchen möglich. Warte, ich google mal kurz mein Leben durch. Außerdem könnte man den Lifestream jederzeit zurückspulen und „die Vergangenheit noch einmal betrachten“.

Welche Auswirkungen hätte ein solches Archivierungskonzept auf die biologische Erinnerungsleistung, auf die Spuren und Eindrücke im eigenen Kopf? Würden sie zweitrangig? Wird der Computer am Ende zum Erzähler unserer Lebensgeschichten? So wie früher die Mutter, wenn sie die Fotos fürs Familienalbum auswählte und mit ihren Kommentaren versah? Gelernter bleibt die Antwort schuldig, andere Lifelogging-Theoretiker auch.

Stefan Selkes Forschung setzt genau hier an. Denn was nützt der eindrucksvollste Datenstrom, wenn er seinen Betrachter nur in Verwirrung stürzt? Ein digitales Lebensarchiv sollte auf seinen Besitzer stabilisierend wirken, meint Selke, und es sollte „den glaubhaften Eindruck eines sinnvoll gelebten Lebens“ vermitteln. Nur wie?

„Gesucht wird ein Story-Telling-Konzept“, sagt der Soziologe. Gemeint ist eine Software, die das digitale Archiv ähnlich clustern, arrangieren und formen könnte, wie es das Gehirn tut. Die menschliche Erinnerung funktioniert eben nicht wie ein Fernsehprogramm, sie wird im Kopf nicht „hochgeladen“ und „abgespielt“. Im Gegenteil: Sie blendet aus oder hebt hervor. Ereignisse werden ausgeschmückt, gedeutet und instrumentalisiert – um es im Jargon der narrativen Psychologie zu sagen. Anders als durch den Akt der Selbsterzählung kann keine Identität entstehen, kein gnädiges Vergessen oder heilsames Aufarbeiten stattfinden.

Selbst gestrickte Ich-war-einmal-Geschichten können im Laufe des Lebens immer wieder angepasst werden. Die analoge Fotografie hat diese Art der Erinnerung unterstützt. Die Fotoalben wurden zu verlässlichen Pfeilern der Rückbesinnung, zu Beweisen für die eigene Version der Lebensgeschichte. Aufkeimende Widersprüche konnte das löchrige Gedächtnis notfalls tilgen.

Die Generation der Digital Natives wird es da schwerer haben, meint Selke. „Die Frage wird sein: Passen sich die zahlreichen gesammelten Daten widerspruchslos in meine biografische Narration ein – oder wirken sie kontraproduktiv?“ Im besten Falle könnten solche Archive die subjektive Erinnerung stimulieren, im schlimmsten Fall aber auch jede wohlwollende Retrospektive untergraben: Ach, das war damals gar nicht Liebe auf den ersten Blick? Und geheiratet haben wir dann nur wegen der Steuer? Nein, das kann nicht sein. Das lösch’ ich raus.

Wo viele Fakten sind, da ist erfahrungsgemäß auch viel Retuschierungsbedarf. Private Geschichtsklitterung – neben dem Lifelogging wird vermutlich auch sie Bestandteil des digitalen Erinnerungsmarktes. Erste Plattformen gibt es bereits.

So hat „Focus“-Herausgeber Helmut Markwort kürzlich die Website stayalive.com vorgestellt, ein „Portal für digitale Unsterblichkeit“. Auf dem kostenpflichtigen Online-Friedhof darf man sich schon zu Lebzeiten auf den Sockel heben, außerdem besteht die Möglichkeit ein Datentestament zu hinterlegen. Darin sollten sich nicht nur alle wichtigen Passwörter von Facebook bis Xing befinden, sondern am besten auch genaue Anweisungen, was mit der digitalen Erbmasse geschehen soll. Ab auf den Memorystick für die Kinder und Kindeskinder? Oder doch lieber hier und da was rauszensieren aus dem sumpfigen Lebensstrom?

Vielleicht erledigt sich die Frage von selbst. Entweder, weil ein Großteil der Dateiformate längst unlesbar geworden ist – oder weil keiner da ist, der sich für den geerbten Datenhaufen interessiert.

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