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Tomas Espedal auf der Frankfurter Buchmesse, 2019.

© imago/Sven Simon

„Lieben“ von Tomas Espedal: Erst der Tod macht das Leben intensiv

Der Norweger Tomas Espedal mischt lustvoll Wirklichkeit und Fiktion. Sein neues Buch „Lieben“ führt diese Technik an einen radikalen Punkt.

Die Frage nach dem Tod, dem „Übel des Todes“, seiner Beziehung zum Leben beschäftigt die Philosophie seit Jahrtausenden, im Grunde seit ihren Anfängen. Inwieweit ergibt das Leben einen Sinn, wenn an dessen Ende das Unvorstellbare steht? Und, anders gewendet: Wird das Leben erst sinnvoll, weil der Tod seine Grenze markiert – und das Lebendigsein so spürbar macht?

In dem neuem Buch des norwegischen Schriftstellers Tomas Espedal, ein Buch, das schlicht „Lieben“ übertitelt ist, fasst der Erzähler den Entschluss, in genau einem Jahr hinter sein Leben einen Schlusspunkt zu setzen – noch einmal alle Jahreszeiten erfahren, noch einmal alles zum letzten Mal sehen, noch einmal die Wahrnehmungsfähigkeit durch die Unwiederbringlichkeit einzelner Momente bis zum Äußersten reizen.

[Tomas Espedal: Lieben. Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Matthes & Seitz, Berlin 2021. 118 Seiten, 18 €.]

Er will den „guten Tod sterben“: „Nicht denjenigen, der jählings kommt oder als Unfall, oder als Krankheit, nicht denjenigen, den man verdrängt und verleugnet, sondern den Tod, dem man entgegengeht, den man wählt. Ich wollte sterben, während er noch voller Lebenskraft und geistiger Frische war, er wollte gern an einem Tag sterben, an dem er zufrieden war und es ihm gut ging.“

Wer das meisterhaft von Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übersetzte Werk des 1961 geborenen Norwegers Tomas Espedal in den letzten Jahren verfolgt hat, Bücher wie zuletzt „Das Jahr“ oder „Gehen. Oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen“, dem dürfte vieles in diesem Buch ziemlich bekannt vorkommen: Wieder ist da ein Erzähler, Schriftsteller von Beruf, der eine unglückliche Ehe hinter sich hat.

Der Tod als Geburstagsgeschenk

Seine große Liebe zu einer viel jüngeren Frau ist in die Brüche gegangen, und das endlose Gehen und Wandern schafft eine Möglichkeit, zu sich zu kommen. Dazu kommt der Alkohol, der den Schreibenden von zu viel Selbstbezogenheit befreit.

Es sind Erinnerungssplitter, die in sein letztes Lebensjahr hineinpiksen – und ein Vergewaltigungsvorwurf (dem Espedal im Übrigen selbst ausgesetzt war) findet außerdem als kafkaesker Alptraum Eingang in diese Erzählung. „Und jemand musste gegen Ich falsch Zeugnis abgelegt haben, denn eines Morgens rief die Polizei ihn an, dabei hatte er nichts Falsches getan.“

Dieses letzte Jahr ist aber kein reines Abschiednehmen, keine melancholische Rückschau, sondern vielmehr ein Aufbruch. Der Erzähler ist berauscht, heißt es einmal, weil er sterben wird. Nur kurz nach seinem Entschluss, lernt er eine Frau kennen und lieben, Aka. Es ist eine leichte, schwebende Liebe. Als Aka ein Kind erwartet, scheint das nahende Ende eine noch viel größere Lebensintensität zu erzeugen. „Aka war schwanger. Es wuchs in ihr heran, dieses vaterlose Kind. Es würde zugleich mit Ichs Tod geboren werden. Es würde mit Ichs Tod geboren werden. Das Kind würde mit Ichs Tod in sich geboren werden. Das Kind würde Ichs Tod als Geburtsgeschenk bekommen.“

Die Nähe zum Tod weckt den Wunsch zu leben

Man merkt es an solchen Sätzen: Das hochverdichtete, autofiktionale Projekt Tomas Espedals, das inzwischen zehn Konventionen sprengende Romane umfasst, kommt hier formal und inhaltlich an einen radikalen Punkt. Espedal erzählt in der dritten Person, aber seine Figur heißt Ich – das ist zugleich eine ironische Distanzierung vom autobiographischen Schreiben und eine fulminante Überblendung von Wirklichkeit und Fiktion. Mit dem Tod dieses Ich gelangt Espedals Romanzyklus einer unerbittlichen Selbstbefragung und Selbstenthüllung an ein Ende.

Der auf der letzten Seite dieses Romans angedeutete Freitod verweist darauf, dass auch das authentischste Ich ein literarisches bleibt. Inhaltlich streift dieser philosophisch-essayistische Roman jene Denkregionen, die ins Spekulative, Metaphysische, Unsagbare ragen. Er fragt nach dem würdevollen, schönen Leben – und da scheint allein die Gewissheit des Verschwindens das Dasein ultimativ zu erfüllen, „diese Nähe zum Tod weckte in ihm den Wunsch zu leben, brachte ihn dazu zu sehen und zu fühlen.“

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