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Kultur: Liebe, Drama, Sonnenschein

Akrobat der Ironie: Wolf Haas und sein Interview-Roman „Das Wetter vor 15 Jahren“

Von Gregor Dotzauer

Wolf Haas, wurde gemunkelt, wolle endlich ein anderer werden. Ein ganz anderer. Schluss mit Detektiv Brenner, Schluss mit Krimi, Schluss mit Österreich, und erst recht Schluss mit seinem halbhochdeutschen Markenzeichensound. Und stattdessen? Eine Liebesgeschichte, verlautete aus seiner Wiener Schreibstube. Und worum geht es im neuen Roman? Um „Das Wetter vor 15 Jahren“. Verspricht der Titel, und die ausgiebige Erörterung von Wetter-Normalverbrauchern, Vorfühligkeit, Troposphäre und Stratosphäre, Adria-Hoch und Biskaya-Tief, Blitz und Donner, liegt, gemessen am meteorologischen Informationsgehalt der sonstigen Gegenwartsliteratur, auch weit oberhalb der Sättigungsgrenze.

Doch gerade in diesem Punkt ist sich Haas nicht entkommen. Denn eine Affäre mit dem Wetter hatte er von Anfang an. Schon auf der ersten Seite seines 1996 erschienenen Debüts „Auferstehung der Toten“ geht es um ein „Sauwetter“ im winterlichen Zell am See: „Weil die Kälte, da kann dir das Christkind noch so einen guten Thermoanzug bringen“. Und „deshalb erkennst du im ganzen Land die Liftmänner an ihren erfrorenen roten Nasen. Dass man glauben könnte, das sind gar keine Liftsteher, sondern heimliche Clowns, die sich über den Affenzirkus lustig machen.“ Wie weit es ist von da bis jetzt, zu dem manifestartigen Satz: „Kein Mensch ist auf Dauer so interessant wie das Wetter“?

Seinen längst nach Hunderttausenden zählenden Fans hat Haas insgesamt sechs Brenner-Krimis geschenkt: alle geschrieben in jenem alpenländisch hingerummsten Buckelpistendeutsch, dessen Zärtlichkeit nur Leuten, die nie das Licht des Südens getroffen hat, hottentottenhaft vorkommen kann. Wo es sich doch um eine mit höchstem ethnischen Feingefühl hingedrechselte Kunstsprache handelt. Eine Mischung aus kumpelhaftem Dahergerede und hammerharten Lebensweisheiten, geizig mit Verben, dafür äußerst spendabel mit Doppelpunkten, mit denen der geistig sichtlich beschränkte Ich-Erzähler immer wieder sein eigenes Staunen garniert: Achtung, hier kommt’s. Ausrufezeichen!

Damit hat „Das Wetter vor 15 Jahren“ tatsächlich nichts mehr gemein. Der Oberflächenform nach ist es ein riesiges Interview zwischen einer Figur namens Wolf Haas, die ihrem Erfinder zumindest stark ähnelt, und einer Literaturbeilage genannten jungen Dame aus der Bundesrepublik, die ihn im Verlauf von fünf Tagen (und Kapiteln) zu seinem neuen Roman befragt. Dem Gehalt nach ist es tatsächlich ein Liebesroman – nur dass er außerhalb des Buches spielt, das der Leser in Händen hält. Dieser Roman wird in Auszügen zitiert, der Leser lernt überdies weggelassene und gestrichene Passagen kennen, er erfährt, wie Haas den angeblich wahren Stoff gefunden und recherchiert hat – die Handlungssplitter muss er sich aber aus dem Werkstattgespräch zusammenklauben, das Haas und Literaturbeilage miteinander führen.

Es treten auf im Liebesroman: Vittorio Kowalski, ein aus dem Ruhrpott stammender Wettkönig aus Thomas Gottschalks „Wetten, dass…?“-Show, der die 15 letzten Wetterjahre des österreichischen Urlaubsorts im Kopf hat, den er als Kind Sommer für Sommer besuchte. Seine dort beheimatete Jugendliebe Anni Bonati, die er vor just 15 Jahren verloren hat. Kowalskis Freund Riemer, der an der Volkshochschule den Kurs „Ran an die Frau“ unterrichtet. Annis Gatte in spe, der Hotelbesitzer Lukki. Und eine gewisse Frau Bachl, die als zentrale Figur geschildert wird, doch ein ausgeprägtes Dasein am Rande fristet und mit so güldenen Sätzen Eingang findet wie: „Und ihre dritten Zähne reflektieren den Sonnenuntergang.“ Außerdem geht es um ein gigantisches Sommergewitter, eine Hütte in den Bergen, eine Liebelei im Heu, einen sogenannten Silbersternchen-Orgasmus, Schmugglerware und um die Fortsetzung eines 15 Jahre lang unterbrochenen Kusses einen Zentimeter unter dem linken Backenknochen. Ein Ausbund an schicksalsträchtigen Szenen.

Dagegen wirkt die Begegnung der Interviewpartner zunächst fast unschuldig. Die Literaturbeilage sagt „würklich“, „ürgendwie“ und „Kürche“, vieles ist ihr „too much“ an dem Buch, das sie oft genauer gelesen hat als der Autor es erinnert. Sie scheint auch einen leichten psychoanalytischen Knall zu haben, wenn sie die „phallische Symbolik der Luftmatratze“ betont, eines jener über Seiten ausgebreiteten, wunderbar erratischen Details, die diesen Roman ins Groteske treiben. Jener „Luftmatratze, die darunter leidet, dass sie sich nicht in ihrer ganzen Größe ausbreiten darf, weil sie hinter dem Muttersitz eingeklemmt ist“. Wofür sich der Haas des Buches gerne mit leicht anzüglichen Bemerkungen revanchiert: „Für mich sind Luftmatratzen einfach irgendwie geile Geräte.“

„Das Wetter vor 15 Jahren“ kreuzt den Metaroman mit dem Dialog. Beide Formen sind vielleicht in die Jahre gekommen, oder in die Jahrhunderte? Sind der „Don Quijote“ des Miguel de Cervantes und der „Tristram Shandy“ des Laurence Sterne nicht hochvergnügliche metafiktionale Ereignisse zu Beginn des europäischen Romans? Man muss nicht erst Italo Calvinos Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ bemühen, wenn man eine Prosa sucht, die ihr eigenes Entstehen mitreflektiert. Und steht am Anfang des philosophischen Denkens nicht der sokratische Dialog? Soll man Haas dafür verantwortlich machen, dass dieser Dialog in Paul Sahners „Bunte“-Interviews gemündet ist?

Das Raffinierte an Haas ist seine Belesenheit, die seine Bücher aber nie beschwert – und dass er sich aus Hoch- und Popkultur leiht, was ihm gefällt. Er erwähnt F.C. Delius’ Dissertation „Der Held und sein Wetter“, er verneigt sich vor William Faulkner, er gibt seinen österreichischen Höchstliteraturkollegen Christoph Ransmayr und Raoul Schrott auf die Mütze, zitiert Neil Young – und das so spielerisch, dass es eine Freude ist.

„Das Wetter vor 15 Jahren“ ist ein Stück humoristischer Gattungsakrobatik par excellence. Bewundernd schaut man diesem literarischen David Copperfield zu und fragt sich, wie er das alles eigentlich gemacht hat. Zugleich flutscht einem das Programm dieser Revue aber auch so widerstandslos durchs Hirn, dass es für eine Geschichte, die von leidenschaftlicher Liebe zu erzählen vorgibt, schon irritierend ist.

Parodie und Travestie unterscheiden sich dadurch, dass die Parodie einen Stoff unter Beibehaltung der Form ironisiert, während die Travestie von der angemessenen Form unter Beibehaltung eines Stoffes absieht. In diesem Sinn ist „Das Wetter vor 15 Jahren“ die Parodie eines Interviews und die Travestie eines Liebesromans. Oder auch: eine Satire auf ein epidemisch gewordenes Genre nebst Seitenhieben auf den Literaturbetrieb. Und ein Anzeichen dafür, wie schwierig es geworden ist, einen perspektivisch ungebrochenen, nichtironischen Liebesroman zu schreiben.

Ironie, die ja eine unerlässliche Distanzhilfe bei Wahrheiten ist, die einem allzu sehr zu Leibe rücken, schützt bis zu einem gewissen Grad auch vor Ernsthaftigkeit. Die Herausforderung, die Liebesgeschichte zwischen Vittorio und Anni in ihrer ganzen verzehrenden Dramatik zu erzählen, unterläuft Haas elegant. Wie sich aber Vittorios leidenschaftliche Liebe mit seiner neurotischen, wetterfixierten Ausstattung als Figur vertrüge, wäre eine interessante Frage. Es mag sein, dass die Kunst zur Wiederholung verdammt ist, während in seinem eigenen Leben jeder das Privileg (und manchmal die Last) hat, alles ein erstes Mal zu erleben. Ganze künstlerische Genres – wie etwa der computeranimierte Film – leben nur noch vom Zitieren und ironischen Brechen.

In Einzelfällen wie „Shrek“, auch die Geschichte einer Liebe als Passion, gelingt vielleicht die Rückeroberung einer erzählerischen Unschuld durch die Allgegenwart des Zitats – als hätte sich der Film so sehr mit den eigenen Voraussetzungen beschäftigt, dass er sie darüber vergessen konnte. Haas, der österreichische „Blitzgneißer“, wie er von der Literaturbeilage genannt wird, nachdem er sie in seine Wunderwelt der austriakischen Spezialausdrücke eingeführt hat, ist mit dem „Wetter vor 15 Jahren“ immerhin schon nahe dran.

Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006. 224 Seiten, 18,95 €.

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