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Vanessa Redgrave mit ihrem Mann, dem Schauspieler Franco Nero, am Mittwoch in Venedig.

© imago/Future Image

Lido-Lichtspiele (Extra): Vanessa Redgrave gibt sich die Ehre

Erste Pressekonferenzen beim 75. Filmfest Venedig, mit Ehrenpreisträgerin Vanessa Redgrave, Ryan Gosling und „First Man“-Regisseur Damien Chazelle.

Ihre Stimme füllt den Saal im obersten Stock des Casinò am Lido, sonor, mühelos, jede Silbe liebevoll deklamierend, schließlich wurde sie mit der Royal Shakespeare Company berühmt. Vanessa Redgrave erhält zur Eröffnung der 75. Filmfestspiele Venedig den Ehren-Löwen fürs Lebenswerk und korrigiert beim Pressegespräch gleich den ersten Journalisten. Nein, es war nicht ihr Vater, der 1937 auf der Bühne „A star is born“ deklamierte, als er die Nachricht von ihrer Geburt erhielt. Es war Laurence Olivier. Ihr Vater, der Schauspieler Michael Redgrave, wechselte da längst in der Künstlergarderobe seine Kleidung, um so schnell wie möglich zu dem Baby zu eilen.
Vanessa Redgrave ist ein Star spätestens seit ihrem Auftritt in Antonionis „Blow up“ von 1967, sie hat sich außerdem immer als Marxistin bezeichnet, war schon als Studentin politisch aktiv, half beim Ungarn-Aufstand, kandidierte mit 27 für die revolutionäre Arbeiterpartei, ist heute Unicef-Botschafterin. Kurzes weißes Haar, hellwach und doch ganz in ihrer Lebenswelt verhaftet, korrigiert die 81-jährige Britin so bestimmt wie charmant auch die nächste Frage nach den Anfängen ihres politischen Engagements. Anfänge? Gab’s eigentlich nicht, es war immer schon da. Die Geschichte vom sechsjährigen Nachbarsjungen, der sich Stücke ausdachte, die sie als Vierjährige mit ihrem Bruder vor ein paar Leuten aufführte, hat sie schon oft erzählt. Sie nahmen Halfpennies als Eintritt und spendeten sie der Royal Navy, wegen der U-Bootblockade gegen die Nazis. „Das war mein erster Versuch, mein Land zu retten.“ Keine Redgrave-Story ohne Pointe, sie vergaß den Text, sie mussten von vorne anfangen.

Vanessa Redgrave spielt ihre Kindheit vor an diesem Nachmittag in Venedig. Wie sie um 18 Uhr am Radio saßen, sie gibt das Rundfunksignal zum Besten und den berühmten Satz „This is the BBC“. Sie deklamiert mit tiefem Idiom den anschließenden Wetterbericht, der habe schon damals nach Shakespeare geklungen. Der Wetterbericht, das war Politik, Weltendrama, denn die Väter, die Onkels, sie kämpften auf See gegen die Deutschen. Wehe, es stürmte. Redgrave hat 2017 erstmals selbst Regie geführt, bei „Sea Sorrow“, einem Dokumentarfilm über Flüchtlinge. Jetzt switcht sie ins Italienische, ihr Mann ist der Schauspieler Franco Nero, sie geißelt die europäischen Regierungen, die in Seenot nicht helfen, sie sagt, sie muss sich zusammenreißen, weil die Wut sie schnell packt. In „Sea Sorrow“ zeigt sie ein britisches Poster von 1941, mit dem die Regierung an die Bevölkerung appellierte, die evakuierten Londoner Kinder aufzunehmen. Es sei eine nationale Pflicht, hieß es damals. „Ich wundere mich,“ so Redgrave in Venedig, „warum es nicht auch heute eine selbstverständliche nationale Pflicht ist, Flüchtlingen zu helfen.“ Sie könnte noch stundenlang weitererzählen, mit epischem Atem. Mit dem Tempo einer Pressekonferenz ist das nicht vereinbar.

Ryan Gosling spielt Neil Armstrong

Also sitzt wenige Minuten später Ryan Gosling auf dem Podium, er verkörpert Neil Armstrong, den ersten Mann auf dem Mond, in Damien Chazelles Eröffnungs-Film „First Man“. Gosling ist Kanadier, Regisseur Chazelle halb Kanadier, halb Franzose. Die Apollo-Mission von 1968, versichern sie, ist keine amerikanische Errungenschaft, sondern ein Verdienst der ganzen Menschheit. Die Szene, in der Armstrong die US-Flagge auf den Mond pflanzt, spart der Film aus. Das war es dann auch schon mit politischen Kommentaren bei der „First Man“-Pressekonferenz, einmal abgesehen von Goslings sympathischem Allgemeinplatz, Chazelle wolle mit seinen Filmen die Menschen zusammenbringen. Das sei eine wichtige Leistung in Zeiten von immer mehr Grenzen.
Sie wollten sich dem Menschen hinter der Ikone nähern, sagen Drehbuchautor Josh Singer, Chazelle und Gosling unisono. Als „introvertierten, schweigsamen, bescheidenen Mann“ beschreibt Gosling den Astronauten, als Familienvater, der wie die meisten Männer der Sechzigerjahre kaum Gefühle zeigen konnte. Die „First Man“-Truppe berichtet von eindrucksvollen Begegnungen mit Armstrongs Söhnen, der Schwester, der Witwe, vom Versuch, die Gemini- und Apollo-Expeditionen so authentisch wie möglich zu zeigen, von der surrealen Klaustrophobie in den winzigen Raumkapseln. Und vom verdammt realistischen, ohrenbetäubenden Lärm beim Raketenstart und den Manövern im All, in den die Sounddesigner Löwengebrüll und donnernde Pferdehufe mixten. Was halt so erzählt wird bei Pressekonferenzen zu Weltpremieren.
Der Mensch hinter der Ikone: Vanessa Redgraves Auftritt macht solche Unterscheidungen hinfällig.

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