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"Abluka" (Frenzy) von Emin Alper, (Türkei, Frankreich, Katar).

© Filmfestspiele Venedig

Lido-Lichtspiele (6): Emin Alpers "Abluka": Die Türkei, ein Albtraum

Obsessives Autorenkino: Beim Filmfest Venedig erntet der südafrikanische Beitrag "Endless River" Buhrufe, während das kritische Türkei-Porträt "Abluka" als Löwen-Kandidat gehandelt wird.

Die Karawane zieht weiter. Zahlreiche Venedig-Beiträge sind diese Woche auch auf den für Oscar-Anwärter wichtigen Festivals in Telluride und Toronto programmiert, mit ihnen reisen die Produzenten, Agenten und Stars vom Lido ab. Zeit für die stilleren Filme im Wettbewerb, Zeit auch für Verrücktes wie Charlie Kaufmans Puppen-Animationsfilm „Anomalisa“.

Die melancholische Story über einen Kundendienst-Sachbuchautor und dessen One-Night-Stand im Hotel gewinnt ihren skurrilen Charme aus der formvollendeten amerikanischen Unverbindlichkeit, mit der die leicht gedrungenen Menschenpuppen noch beim Sex höfliche Dienstleister bleiben. „Are you okay?“: Die Gesichter bleiben uniform, alle, auch die Frauen, sprechen mit Männerstimmen. Nur die Telefonistin Lisa, ein Mauerblümchen mit hässlicher Gesichtsnarbe, wird von Jennifer Jason Leigh synchronisiert und singt eine bezaubernd unbeholfene Version von Cindy Laupers „Girls just wanna have fun“. „Anomalisa“ oder die Kunst, der Normalität ihren Zauber zu entlocken.

Buhrufe bei "Endless River"

Arthouse-Filme sind oft tragisch, trostlos, mysteriös. Man kommt befremdet aus dem Kino, aber dann redet man sich die Köpfe heiß und träumt hinterher anders. Seit Montag versammelt der Wettbewerb solch obsessives Autorenkino. In „The Endless River“ aus Südafrika nähern sich zwei Hinterbliebene von Gewaltopfern einander an, der Franzose Gilles, dessen Familie von einer lokalen Gang massakriert wurde, und die Serviererin Tiny, deren Ehemann Percy kurz darauf ermordet wird. Eine unmögliche Beziehung: Wie sollen die beiden einander vertrauen, wo Percy und Gilles doch die Täter sein könnten? Dass Oliver Hermanus’ Film mit der üblichen Mechanik des Krimiplots bricht und den Teufelskreis der Gewalt verlässt, hat ihm bei der Pressevorführung Buhrufe eingetragen. Ganz schön beschämend, wenn ausgerechnet das Fachpublikum auf der Logik der Rache beharrt.

Auch Emin Alpers „Abluka“ (Wahnsinn) aus der Türkei lässt sich als Protestnote gegen die Gewalt und die Gleichgültigkeit der Welt lesen. Kadir kommt nach 20 Jahren aus dem Gefängnis, im Auftrag der staatlichen Terrorismusabwehr bespitzelt er die Nachbarn und durchwühlt den Müll im schäbigen Randbezirk von Istanbul nach Spuren von Sprengstoff. Sein jüngerer Bruder Ahmet tötet als Bezirksangestellter streunende Hunde, auch eine Art pervertierter Terrorismusabwehr.

"Abluka" wird als Löwen-Kandidat gehandelt

In der Ferne detonieren Bomben, gepanzerte Polizeifahrzeuge lassen die Scheiben vibrieren, jeder verdächtigt jeden. Während Kadir Opfer des eigenen wahnhaften Misstrauens wird, versteckt Ahmet einen der angeschossenen Straßenköter, schottet sich mit ihm ab: Tierliebe als letzte menschliche Regung.

Die Türkei, ein Albtraum: Emin Alper, dessen erster Spielfilm „Beyond the Hill“ 2012 im Forum der Berlinale lief, zeichnet surreale, Rembrandt-gleiche Tableaux der lauernden politischen Gewalt seines Landes, der Einsamkeit und Paranoia, die daraus resultiert. „Abluka“, demnächst ebenfalls auf dem Festival in Toronto zu sehen, wird am Lido als Löwen-Kandidat gehandelt.

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