zum Hauptinhalt
Der Atmosphäre in dem fiktiven Hafenstädtchen New Bentwick haftet von Anfang an etwas Unheimliches an.

© Robert L. Potts/imago

Letzter Roman von Harry Mathews: Ein seltsames Zwillingspaar

Sie teilen ihre Gewohnheiten und leben trotzdem strikt voneinander abgeschottet: Harry Mathews raffiniert konstruierter Roman „Der einsame Zwilling“.

Auch wenn „Der einsame Zwilling“ nicht mit einem Mord beginnt – der Atmosphäre in dem fiktiven Hafenstädtchen New Bentwick haftet von Anfang an etwas Unheimliches an, das an die Kultserie „Twin Peaks“ erinnert. 

Und das, obwohl der Ort, den sich der 2017 verstorbene Autor Harry Mathews ausgedacht hat, zunächst wie eine Art zeitloses Arkadien wirkt: gelegen an einer fischreichen Küste (möglicherweise in Neuseeland), ist New Bentwick zugleich beschaulich und weltoffen, prosperierend und dennoch unbefleckt von jeglichen Schattenseiten der Globalisierung. 

Die Menschen hier lernt man peu à peu durch die Augen von Berenice und Andreas kennen, zwei Ortsfremde, die einem dunklen Geheimnis auf die Spur kommen wollen. 

Nicht in der Funktion von FBI-Agenten allerdings – Berenice ist Psychologin der behavoristischen Schule und Andreas Verleger, der sich brennend dafür interessiert, „wie außergewöhnliche Menschen ihr Leben zu leben beschlossen hatten oder zu leben gezwungen waren“.

Postkoitale Konversationen zweier FBI-Agenten

Für die raffinierte Konstruktion dieses Romans hilft es ungemein, dass sich beide sofort ineinander verlieben. Das gibt ihnen viel Gelegenheit, sich in ausgedehnten postkoitalen Konversationen sowie bei einer Serie von Abendessen mit einem weiteren Paar über das zentrale Rätsel von New Bentwick auszutauschen: Ein seltsames Zwillingspaar, das zwar so gut wie alle Vorlieben und Gewohnheiten teilt, jedoch strikt abgeschottet voneinander lebt. 

John, der liebenswürdigere der beiden, arbeitet als Maat auf einem Fischkutter; Paul, der als schroff und abweisend gilt, hat eine kleine Textilfabrik errichtet. Beide lesen die „International Herald Tribune“ und trinken Pale Ale, allerdings in verschiedenen Kneipen an entgegengesetzten Enden des Ortes. 

Ihr einziges Verbindungsglied: eine exzentrische junge Frau namens Wicheria, die mit beiden eine Affäre hat und bedeutungsvoll sagt: „Die beiden spielen ein Spiel, und zwar dasselbe Spiel.“ In gewisser Weise legt der Autor alle Clues offen auf den Tisch, allerdings so nebenher zwischen die Zeilen geschmuggelt, dass man sie leicht überliest.

Als erster US-Amerikaner wurde Mathews 1972 auf Betreiben von Georges Perec in die legendäre Oulipo-Gruppe aufgenommen. 

[Die Coronavirus-Krise ist auch für die Politik eine historische Herausforderung. Jeden Morgen informieren wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, in unserer Morgenlage über die politischen Entscheidungen, Nachrichten und Hintergründe. Zur kostenlosen Anmeldung geht es hier.]

„Der einsame Zwilling“ unterwirft sich zwar keinen so offensichtlichen formalen Zwängen wie das Hauptwerk Perecs, doch entsteht durch seine schier unendlich verzweigten Verschachtelungen der Eindruck, es mit einem Roman zu tun zu haben, der durch einen einfachen, aber genialen Trick den Inhalt eines 1000-Seiten-Wälzers auf 120 Seiten kondensiert. 

Kurz vor seinem Tod schreibt Mathews dieses kleine, feine Buch mit unglaublich leichter Feder und einer Gelassenheit, als hätte er alle Zeit der Welt.

Beinahe mag man sich geblendet fühlen, entfernen sich doch die Geschichten, die sich die beiden Paare beim Dinner erzählen, denkbar weit vom rätselhaften Zwillingspaar. Es geht um einen Kammerdiener, der sich in einem Moment absoluter Windstille erleuchtet glaubt und fortan nach Menschen sucht, mit denen er diese Erfahrung teilen kann. 

Oder um einen Geschäftsmann, der auf die Idee kommt, seinen Autohandel mithilfe einer an der Wahrheit angelehnten Krankenhausserie anzukurbeln. 

Gerüchte, Mathews sei ein CIA-Agent

„Malachi hatte intuitiv einen fundamentalen, fest in uns verankerten Impuls ausgemacht: den Wunsch, das Ungelöste zu lösen, das Unvollständige zu Ende zu bringen, zuzusehen, dass das Schiefe geradegerückt wird“, heißt es da – was leicht ironisch verzerrt das Erzählprinzip dieses Buches ziemlich treffend wiedergibt.

Betrachtet man die Geschichten genauer, kristallisieren sich verbindende Elemente heraus: Die Gegenüberstellung verschiedener Paarkonstellationen, Verlust als identitätsstiftende Erfahrung, die Frage nach dem freien Willen. 

Was erlebt und was erfunden ist, lässt Mathews indes in der Schwebe – wie schon in seinem Roman „Mein Leben als CIA“, in dem er mit oulipotischem Elan die Anfang der siebziger Jahre entstehenden Gerüchte aufgreift, ein CIA-Agent zu sein, ohne diese zu bestätigen oder zu dementieren.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Erstaunlich, dass seine über alle Klassen hinweg durchweg kultivierten Figuren inmitten ihrer überbordenden, irr verwirbelten Erzählungen sogar noch Zeit finden, erlesene Meeresfrüchte und importierte Weine zu konsumieren. 

Doch verleihen gerade solche Details dem Roman eine genießerische Langsamkeit, die das Surreale ein wenig abmildert und damit vielleicht eine ähnliche Wirkung erzielt wie der legendäre Kirschkuchen und der „verdammt gute Kaffee“ in „Twin Peaks“.

Nicht alle Fragen werden gelöst; auch wird nicht alles „Schiefe geradegerückt“. Dennoch gelingt Mathews das Dénouement erstaunlich elegant – gerade weil wir im Laufe der Lektüre in völlig andere Abgründe blicken dürfen, als eingangs zu erwarten stand.
[Harry Mathews: Der einsame Zwilling. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Mundhenk. Diaphanes Verlag, Zürich 2020. 124 Seiten, 12 €.]

Anja Kümmel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false