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Der Beginner. Schauspieler Joachim Król hat bei der Lesung in der Volksbühne den Auftakt gemacht.

© dpa/Rolf Vennenbernd

Lesung von „Die Hauptstadt“ in der Volksbühne: Schlafes Ruder

Lese-Marathon in der Volksbühne: Eine Nacht mit Robert Menasses preisgekröntem Brüssel-Roman „Die Hauptstadt“.

Zehn vor sechs, Handy aus, noch mal zur Toilette. Dann bin ich bereit für diese vollkommen bekloppte Aktion. Auch wenn es anders auf dem Programmzettel steht: Das ist keine Lesung. Eher eine Meditation. Ich habe sicherheitshalber Wurststullen und ein Kissen mitgebracht. Kurz nachgedacht auch über die Option Jogginghose. Dann aber doch verworfen.

Knapp fünfzehn Stunden lang wollen elf Schauspielerinnen und Schauspieler den 450-seitigen Roman „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse vorlesen. Allzu viele Zuschauer hat diese Idee am Mittwochabend nicht zur Volksbühne locken können, nur rund hundert sind gekommen. Auch mich plagen vor Beginn größte Zweifel. Vor allem die Angst vor Rückenschmerzen. Die Erinnerung an die grässlichen abgesägten Stuhlbeine des schrägen Castorf-Neumann-Raums steckt noch in den Knochen. Auf den Text dagegen bin ich extrem neugierig. Wird der preisgekrönte Roman beim mündlichen Vortrag halten, was die gedruckte Literaturkritik verspricht?

Frisch und rot gepolstert begrüßt der wieder in Originalzustand versetzte Zuschauerraum. Trotzdem beginnt der Abend zwischen brauner Holzvertäfelung mit einer Enttäuschung: Menasse selbst ist, anders als angekündigt, nicht da. Angeblich im Transitbereich eines Flughafens hängengeblieben. Vom Suhrkamp-Chef wird er live zugeschaltet. Blechern tönt die Stimme des Autors aus dem Smartphone-Lautsprecher. Ein holpriger Anfang.

Der Roman strahlt

Doch dann: Joachim Król. Auftritt mit Lesebrille und weißem Vollbart. Was folgt, ist kein Einstieg, sondern ein Erweckungserlebnis. Król reißt uns augenblicklich mit. Gestikuliert und intoniert nicht wie ein Schauspieler, der sich was zurechtgelegt hat. Sondern durchlebt mit Haut und Haar jedes einzelne Wort des ersten Kapitels. Die zahlreichen Figuren, die da durch Brüssel hasten, stehen plötzlich alle plastisch im Raum. Sind ganz nah. Dass das Buch tief und groß ist, dass Menasses Sprache Rhythmus hat und zart und hart zugleich klingen kann – daran besteht schon nach dreißig Minuten keinerlei Zweifel mehr.

Halb acht, Król ist hinter der Bühne verschwunden. Hinter mir leises Schnaufen. Vor mir werden Kekse geknabbert.

Die schönste Erkenntnis der nächsten Stunden: wie sich die Dialekte und Temperamente der Schauspieler mit dem Roman vermischen, wie die Vorlesenden die Geschichte immer wieder anders einzufärben vermögen. Jede und jeder fördert eine neue Nuance zutage. Silvia Rieger das Bissig-Süffisante, Jeanette Spassova die Melancholie, Anna Maria Sturm den Humor. Der Roman schimmert nicht, er strahlt.

Halb zwei, es gibt keine Pausen

Kompliment: Menasse und die Volksbühnentruppe schaffen es lange, uns wachzuhalten. Aber dann passiert es doch. Kurz vor Mitternacht, die Lider hängen schwer über den Augen, der Körper zuckt unkontrolliert. Die Stimme auf der Bühne ist zur Stimme im Kopf geworden. Nur noch Fetzen von Handlung dringen ins schläfrige Bewusstsein vor. Zum Glück kennen wir das Romanpersonal mittlerweile gut, die karrierebesessene Fenia Xenopoulou, den depressiven Martin Susman, den einsamen David de Vriend. Auch nach kurzem Einnicken lassen sich die Fäden der Geschichte leicht wieder aufnehmen.

Wann kommt endlich Anne Tismer? Wenn dem Dercon-Team schon jetzt für etwas Lob gebührt, dann dafür, Anne Tismer zurück auf eine große Berliner Bühne geholt zu haben. Wie haben wir sie vermisst! In tarnfarbenem Army-Look schleicht sie schließlich herein. Ihr Ton: unverwechselbar. Schnell, flirrend, immer am Rande der Tragödie balancierend. Jeden Moment drohen die Figuren in den Abgrund zu stürzen. Bitte, Anne, nicht aufhören zu lesen!

Halb zwei. Es gibt keine Pausen. Wer austreten muss, tut das einfach. Die meisten sind längst nach Hause gegangen. Die Verbliebenen haben sich großzügig über den ganzen Zuschauerraum verteilt. Köpfe sind zur Seite gesunken, Schuhe wurden ausgezogen, Beine über Lehnen gehängt. Das Licht gedimmt, genau wie die Stimmung. Wir sind unter uns, in unserem großen, vertrauten Wohnzimmer namens Volksbühne. So könnte es ewig weitergehen. Schlafen, zuhören, zuhören, schlafen.

Fünf Zuschauer sind am Ende übrig

Doch es kommt der Rauswurf. Zu den aufdringlichen Akkordeonklängen von „Freude, schöner …, Tochter aus …“ – ach ja, Europahymne, bisschen einfallslos – werden wir ins obere Foyer getrieben. So stand es auch auf dem Programmflyer. Seit Stunden sinniere ich darüber, was uns dort erwartet. Ein Sessel, eine Decke, die gemütlichen Sitzsäcke der letzten Intendanz? Eine Runde heißen Kaffee für alle?

Nichts dergleichen. Nur 60 schwarze, harte Stühle. Dazu ein Raum, der kühl ist und viel zu hell. Fünf Zuschauer sind noch übrig geblieben. Der Hall im Foyer lässt die Sätze verschwimmen, die vorne weiter ununterbrochen aus dem Mund der Schauspieler fallen. Der Zauber ist verflogen. Übrig nur noch ein nichtssagender Klangteppich.

Vielleicht war das genau der Zweck dieser nächtlichen Übung: den Sinn zu finden hinter den Buchstaben. Um ihn dann gleich wieder zu verlieren. Es ist halb vier. Ich muss ins Bett.

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