zum Hauptinhalt

Kultur: Lesung: Aufschreiben, was da ist

Sonst ist die Diva durchaus eine Freundin des großen Auftritts. Heute Abend jedoch hält sie sich zurück, überlässt das Feld ganz den Männern.

Sonst ist die Diva durchaus eine Freundin des großen Auftritts. Heute Abend jedoch hält sie sich zurück, überlässt das Feld ganz den Männern. Kein Wunder, der Hahnenkampf der beiden dreht sich doch irgendwie um sie. Die französische Botschaft in Berlin hat gerufen, gekommen sind Ingrid Caven, Chansoniere und einzige wirkliche Ehefrau von Rainer Werner Fassbinder, ihr Freund Jean-Jacques Schuhl, der den Roman "Ingrid Caven" geschrieben hat, und der Schauspieler Klaus Löwitsch, der eigentlich aus dem Buch lesen soll.

Zunächst aber balanciert die Caven unauffällig auf hohen Absätzen und mit Sonnenbrille in das Auditorium des Literarischen Colloquiums, und nimmt nur widerstrebend in der ersten Reihe Platz. Schuhl, der für seinen Roman in Frankreich den Prix Goncourt bekommen hat, soll alle Aufmerksamkeit gelten. Mit Zigarre und in den schwarzen Schlabberlook gekleidet, den nur Franzosen so hinkriegen, entert der schmächtige Schriftsteller die Bühne. Klaus Löwitsch hat sich hinter einer Säule versteckt.

Schuhl erzählt, dass er wenig Fantasie hat. Er will nur aufgeschrieben haben, "was schon da war". Die Caven als kleines Kind, das Weihnachtslieder singt für Wehrmachtsoldaten, mit Fassbinder, Tische umschmeißend im Streit mit Schuhl, im Konzert. Deshalb sind die 18 Episoden des Romans aber keine Biografie. Sein Buch, sagt Schuhl, sei eine "neu hergestellte Wirklichkeit". Klaus Löwitsch spielt mit seiner Brille. Nach zwanzig Minuten kommt Schuhl in Fahrt: Er habe ein pluralistisches Buch geschrieben, so der Autor, mit allen literarischen Genres, changierend zwischen dem Tragischen und dem Burlesken. So wie die Person Ingrid Caven. Klaus Löwitsch ruckelt hinter seiner Säule und schaut irritiert.

Die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Teilen des Buches hätten ihn am meisten interessiert, erzählt Schuhl. Da, wo das Unheimliche auftauche. Die Spannung aus der Verbindung einer deutschen Frau und einem französischen Juden habe er in die Sprache des Romans einfließen lassen. Klaus Löwitsch hat inzwischen einen roten Kopf und vertritt sich die Beine. Nach einer Stunde zitiert Schuhl Paul Claudel, philosphiert über Brecht und chinesische Travestie. Klaus Löwitsch steht auf und geht.

Damit nichts Schlimmeres passiert, klatscht das Publikum irgendwann sehr heftig, und der Übersetzer hört auf zu Übersetzen. Klaus Löwitsch kommt wieder und darf endlich lesen. Das macht er so wunderbar, dass am Schluss alle glücklich sind. Ingrid Caven, Jean-Jacques Schuhl, Klaus Löwitsch, und das Publikum.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false