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Leo Tolstoi (9. 9. 1828 – 20. 11.1910) zwei Jahre vor seinem Tod.

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Leo Tolstoi: Russlands großer Schriftsteller

Er war der Stachel im Fleisch der russischen Gesellschaft: zum Geburtstag des dichtenden Exorzisten Leo Tolstoi.

Der vorerst letzte Tolstoianer starb 1992. Im September jenes Jahres stießen Elchjäger in einem entlegenen Gebiet Alaskas auf den Leichnam eines jungen Mannes. Vier Monate hatte der 24-jährige Christopher McCandless in der Wildnis verbracht, ohne passende Ausrüstung und ohne Kontakt zur Außenwelt. Als er starb, wog er 30 Kilo. Im Gepäck des Verhungerten fand man – neben einem Überlebenshandbuch – einen Band mit Erzählungen von Leo Tolstoi.

Für Christopher McCandless war Tolstoi ein Vorbild. Und tatsächlich hatte der amerikanische Abenteurer, dessen Geschichte Jon Krakauer in dem Buch „In die Wildnis“ erzählte und die Sean Penn in einem Film verarbeitete, manches gemein mit dem russischen Grafen. Privilegiert, wohlhabend, gebildet und überdurchschnittlich begabt, träumten beide schon früh von der Flucht aus dem „falschen“ Leben. Und beide beherrschten die Geste, der Gesellschaft verächtlich alles vor die Füße zu schleudern, worum diese sie beneidete.

Der angehende Harvard-Student McCandless spendete 25 000 Dollar Studiengebühren an eine Wohltätigkeitsorganisation, bevor er der Zivilisation den Rücken kehrte. Leo Tolstoi verzichtete auf einen Teil seiner Autorenrechte und entzog damit der Familie – sehr zu deren Verdruss – ein Vermögen. Damit nicht genug, auf dem Höhepunkt seines Ruhms kündigte der Autor von „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ gerade das auf, wofür man ihn verehrte und was er am meisten liebte: die Kunst. Ivan Turgenev – privat kein Freund Tolstois – appellierte noch auf dem Totenbett an den Kollegen, er möge wieder zur Literatur zurückkehren.

Leo Tolstoi - das Monument einer Epoche

Anders als Christopher McCandless entschwand Leo Tolstoi jedoch nach solchen Paukenschlägen nicht in die Anonymität des Eremitendaseins, von dem er zusehends träumte. Er blieb, wo er geboren war: auf dem Landgut Jasnaja Poljana, umringt von seiner großen Familie und einer wachsenden Zahl von Bewunderern. Dort saß er bis kurz vor seinem Tod – distanziert und doch in Sichtweite der Gesellschaft – als steter Stachel in deren Fleisch. Tolstoi, schrieb Viktor Schklowski, stellte sich der Epoche entgegen, aber er wandte sich nicht von ihr ab. Genau deshalb wurde er zum Monument dieser Epoche, ihr Gewissen und Spiegel zugleich. Denn es waren ja seine eigenen Laster, die er verteufelte.

Ein Luxusleben auf Kosten anderer, Jagd, Fleisch- und Kunstgenuss, ausschweifende Sexualität – was immer Tolstoi anprangerte, betrieb er selbst. Da half es nichts, wenn er den Tee aus der Untertasse schlürfte und seine eigenen Schuhe nähte. Ein „Totschlagen der Zeit“ und „künstlich primitiv“, urteilte Tomáš G. Masaryk, Sohn eines Kutschers und späterer Gründer der Tschechoslowakei, über solche Selbststilisierung.

Literatur als Exorzismus

Die Literatur war der Ort, wo Tolstoi seine Dämonen antreten ließ, um sie dann mit priesterlichem Furor auszutreiben. Literatur als Exorzismus: schon früh zeigt sich in seinen Werken ein fundamentalistischer Rigorismus. Er ließe sich schwer ertragen, wäre da nicht die quasi göttliche Weite des Blickes, mit der Tolstoi auch das zu strotzendem Leben erwachen lässt, was ihm verhasst ist. Sie waltet selbst noch in jenen Texten, die der alte Tolstoi sozusagen von der Kanzel herabwetterte. Nur so ist zu erklären, warum uns die abstrusen Thesen der „Kreutzersonate“ oder das misogyne Wüten in „Der Teufel“ nach wie vor faszinieren.

Wie wird man dem Phänomen Leo Tolstoi gerecht? Wie bringt man sie unter einen Hut – die „Einseitigkeit der Lehre“ und die „Vielseitigkeit dieses märchenhaften Menschen“ (Gorki) und Künstlers? Der C.H. Beck Verlag etwa legte zum 100. Todesjahr gleich zwei Bücher vor, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Eine Dokumentation von radioWissen über das Leben von Leo Tolstoi

In dem prachtvoll edierten Band „Für alle Tage“ tritt uns jener Tolstoi entgegen, der Maxim Gorki an einen „Sektenlehrer von der Wolga“ erinnerte. Laut Verlagswerbung handelt es sich um die „gültige deutsche Ausgabe“ einer Anthologie von Sinnsprüchen, Maximen, kurzen Geschichten, die Tolstoi in seinen letzten Lebensjahren zusammenstellte. Texte aus eigener Feder finden ebenso Eingang wie Zitate von Kant oder Laotse und mexikanische Weisheiten.

Ein „Lebensbuch“ will der Band sein mit einem täglichen Lesepensum, das uns hilft, ein besserer Mensch zu werden. Die im Index aufgeführten Themen reichen von „Anfechtungen“ bis „Zweifel“. Von letzteren ist freilich nichts zu spüren. Egal, ob das Stichwort „Begierde“, „Böses“ oder „Frau“ lautet: hier herrscht in allen Fragen Klarheit.

Volker Schlöndorff, der 2009 nach Jasnaja Poljana reiste und das Geleitwort schrieb, ist begeistert. Ein Blick ins (stumm gestellte) russische Fernsehen genügt, und er weiß: Leo Tolstoi ist aktueller denn je. „Ein Buch der Stärkung“ nennt er den Band. Und derart gestärkt, wettert er los gegen Konsumrausch und Plattenbauten, Krieg und Familie, als wolle er Tolstoi postum um den Prophetenbart gehen.

Aus dem Leben von Leo Tolstoi - Werke und Persönlichkeit

„Der alte Leo Tolstoi ist ein Ärgernis“, befindet hingegen Ulrich Schmid in seinem Nachwort und nennt gute Gründe, warum sich die Lektüre dennoch lohnt. Von Schmid stammt auch die äußerst lesenswerte Kurzbiographie „Lew Tolstoi“. Auf knappstem Raum wird hier ein vielschichtiges, nach Lebensthemen geordnetes Bild von Werk und Persönlichkeit Tolstois entworfen.

Das (von Tolstoi selbst genährte) Klischee von einer krisenhaften „Wende“, in der der Moralist den Sieg über den Künstler errang, verwirft Schmid gleich am Anfang. Sein Buch macht deutlich: Tolstois Schaffen entspringt einer lebenslangen Krise. Und Schmid deutet an, was sich wohl hinter Tolstois moralischen Rigorismus verbarg: eine Art nihilistischer Verzweiflung und ein nie zu beschwichtigender „Horror vor dem Sterben“.

Am Schluss machte Tolstoi Ernst mit der Flucht aus dem falschen Leben. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass er bei seiner Irrfahrt in den Tod keine Sekunde lang allein war. Die Nachricht von Tolstois Ableben an der Bahnstation von Ostapowo war kaum bekannt, als die Filmcrews anrückten und sein Ende in ein Medienspektakel verwandelten.

Der letzte Tolstoianer Christopher McCandless fasste kurz vor seinem einsamen Tod in Alaska den Entschluss, in die Gesellschaft zurückkehren. Den Anstoß gab – so will es jedenfalls der Film – ein Zitat aus Tolstois Erzählung „Familienglück“. Zu spät. Tolstoi hatte McCandless den Weg in die Wildnis gewiesen. Wie man aus ihr wieder herausfindet, verriet er nicht.

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Google Doodle zum Geburtstag von Leo Tolstoi

Anlässlich seines 186. Geburtstages ehrt auch Google den russischen Schriftsteller. Im Google Doodle ist nicht nur der Schriftsteller zu sehen; der User kann sich gleich durch einige seiner Werke klicken - wie "Krieg und Frieden", "Anna Karenina" und "Der Tod des Iwan Iljitsch".

Bettina Kaibach

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