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Rumänien in Leipzig. Der Stand des Gastlandes auf der Buchmesse, die Sonntag zu Ende geht.

© Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa

Leipziger Buchmesse: Mehr Abgrund als gedacht

Das Gastland Rumänien zeigt sich bei der Leipziger Buchmesse facettenreich und sucht den Anschluss an Europa. Doch zu Hause schütteln Politiker verärgert den Kopf.

Von Gregor Dotzauer

In der Messelounge, zwischen bulligen Lederfauteuils und riesigen Fensterscheiben mit Blick auf das Leipziger Schneetreiben, fliegen die Gedanken der Größten. Auf einer der bedruckten Stoffbahnen, die den Raum teilen, meldet sich Voltaire zu Wort: „Lesen stärkt die Seele.“ Auf einer anderen wagt sich ein gewisser Friedrich Nietzsche an die These: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“ Moment, ist das nicht der Verrückte, der zu Huren ging und Hitler zur Macht verhalf? Und versüßen Nora Roberts und Rosemarie Pilcher ihren Leserinnen das Leben nicht genau damit?

Gut, dass in dieser Sekunde der Leipziger Autor Matthias Senkel vorbeikommt, der mit seinem retrofuturistischen Roman „Dunkle Zahlen“ für den Preis der Buchmesse nominiert war, und empfiehlt, einfach mal die Nomina zu vertauschen: „Wir haben die Wahrheit, damit wir nicht an der Kunst zugrunde gehen.“ Klingt auch nicht schlecht und in diesen Zeiten der Wirklichkeitsverdrehung sogar zeitgemäß. Dennoch wäre die Ergänzung angebracht, dass Nietzsches nachgelassenes Fragment zwar den schönen Schein verteidigt, gleichzeitig aber Religion, Moral und Philosophie in den Orkus verbannt. Sein aus dem Zusammenhang gerissener Aphorismus wird von der Bemerkung eingeleitet: „Die Wahrheit ist hässlich.“ So freimütig will das bei einem Fest des Lesens natürlich niemand sagen.

Der Dichter Mircea Dinescu rückt die Dinge zurecht

Unterwegs zu Halle 4 weist ein Plakat auf eine Veranstaltung zweier Schweizer Damen hin, die sich in der Tradition ihres Landsmannes, des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi, dem Lesen als „Königsweg zur Gemütsbildung“ widmen. Eine Vorstellung, die nur daran krankt, dass sie noch ganz auf die Einheit des Wahren, Guten und Schönen setzt. Doch kaum ist man am Stand des Schwerpunktlandes Rumänien angelangt, sitzt da in der Leserotunde der große Dichter Mircea Dinescu und rückt die Dinge zurecht.

Im Dezember 1989 war er derjenige, der vom Balkon des Bukarester Präsidentenpalastes aus den Sturz Nicolae Ceausescus verkündete. Heute betreibt er in der Altstadt das Restaurant „Lacrimi si Sfinti“, benannt nach E. M. Ciorans Jugendwerk „Von Tränen und Heiligen“, geht auf dem Land der zweiten Form von Poesie, dem Weinanbau, nach, übt sich als Chansonnier und hat im Fernsehen eine Kochshow. Ich will nicht über die Welt sprechen, denn ich kenne die Welt schon, sagt Dinescu, bevor er neue Gedichte vorträgt und unter den Zuhörern Proben seiner Winzerkunst verteilt. Wenn ich nach 1989 Japaner gewesen wäre, erzählt er, hätte ich Harakiri begangen. Als Rumäne tue ich das ganz langsam, indem ich mit Begeisterung esse und trinke und satirische Glossen verfasse. Und vor dem Irrenhaus bewahrt mich das Kochen. Mit anderen Worten: Mircea Dinescu schwingt den Kochlöffel, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen.

Das Interesse des Publikums am Rumänien-Stand ist groß

Der rumänische Auftritt, in tiefem Blau architektonisch großzügig gestaltet, entwirft in Lesungen und Diskussionen ein facettenreiches Bild des Landes. Doch während die Organisatoren über den Zuspruch des Publikums und der Medien mehr als zufrieden sind, schütteln die Politiker zu Hause desinteressiert oder verärgert den Kopf. Sie hatten offenbar erwartet, als Speerspitze eines modernen Europa porträtiert zu werden und bekommen nun von ihren eigenen Schriftstellern ein sehr viel abgründigeres Bild zurückgespiegelt. Zur Eröffnung im Gewandhaus erschien als einziger offizieller Abgesandter der Außenminister Teodor Meleecanu, einstmals Chef des Auslandsgeheimdienstes. In gebrochenem Englisch trug er ein farbloses Grußwort vor.

Dabei bildet sich rund um den rumänischen Stand, beim Literaturnetzwerk Traduki, im Café Europa und dem Forum OstSüdOst in diesen Tagen ein Geflecht von polnischen, ungarischen und balkanischen Geschichten, die auch die Nachwirkungen der deutschen Teilung beleuchten. Meine Filmstudenten, erklärt mit leisem Schrecken der 1968 geborene Ungar Attila Bartis, haben keine Ahnung, was vor 1989 geschah. Das sei aber kein bloßer Vorwurf an die Nachgeborenen. Er richte sich auch an die eigenen Schweige- und Vermeidungsspiralen. Es gebe, ergänzt Valeska Bopp-Filiminov, eine Romanistin aus Jena, eine massive Erinnerungs- und Erzählunlust in Bezug auf das Leben im Kommunismus, die paradoxerweise dazu führe, dass es verklärt werde. Und der rumänische Schriftsteller Filip Florian gesteht, dass er und seine Freunde in den 90er Jahren so beschäftigt damit gewesen seien, die stillschweigende Fortführung der Diktatur unter anderen Vorzeichen zu verhindern, dass sie es schlicht versäumt hätten, ihren Kindern zu erzählen, was geschehen sei. Damit lässt sich buchstäblich kein Staat machen. Es braucht die Leipziger Buchmesse auch, um nicht an diesen verschluckten Wahrheiten zu ersticken.

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