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Alter Ego. Antonio Banderas verkörpert den depressiven Filmemacher Salvador Mallo. In Cannes erhielt er dafür eine Goldene Palme.

© Studiocanal

„Leid und Herrlichkeit“: Pedro Almodóvar gelingt sein Altersmeisterwerk

Auf der Suche nach dem versäumten Leben: In Pedro Almodóvars großartigem Melodram „Leid und Herrlichkeit“ spielt Antonio Banderas die Rolle des Regisseurs.

Der Junge kippt einfach um, er fällt vom Stuhl, mit fiebriger Stirn. Eigentlich hatte Salvador mit seinen neun Jahren bloß dagesessen, mit einem Buch in der Hand. Die Sonne scheint durch das Oberlicht der Höhlenwohnung auf den Stuhl und die Blumenkübel, und Eduardo, der junge Anstreicher, der gerade die Küchenwand verkachelt, greift sich ein Stück Zementsackpapier, um das lesende Kind zu zeichnen. Der Handwerker schwitzt, er zieht sich aus, um sich zu waschen, und Salvador schwinden die Sinne.

Begierde und Erkenntnis: Pedro Almodóvar hat daraus schon immer Melodramen geschaffen, wilde, sanfte Kinomomente. Dieser hier erzählt von dem allerersten, noch unbewussten Begehren eines Jungen, der einmal ein berühmter Filmemacher werden wird, und es ist einer der schönsten Momente im Werk des spanischen Regisseurs. Ein ikonischer Augenblick, eine romantische Epiphanie, ein bisschen kitschig, wortlos, sonnendurchflutet. Als ob das Kino den Atem anhält.

Jahre später landet die kolorierte Zeichnung auf einer Vernissage-Einladung in Salvadors Post. Es ist reiner Zufall: Der Kurator der Volkskunst-Ausstellung hatte das Bild auf einem Flohmarkt erworben. Salvador kauft es, findet auf der Rückseite ein paar ungelenke Zeilen von Eduardo – und erinnert sich. Seine fürsorgliche Mutter (Penélope Cruz) hatte ihm den Brief damals vorenthalten.

Salvador erinnert sich oft in diesem Film. Immer wenn er träumt oder Drogen nimmt, gleitet er in jenen Dämmerzustand hinüber, der dem Kinoerlebnis so nahe kommt. Im Nu ist alles da, was Pedro Almodóvars Filme ausmacht: die Feier der Liebe, die Homosexualität, die enge Beziehung zur Mutter, der Sinnesrausch. Und die Kunst, das Leben in Bildern zu vergegenwärtigen, in Szenen von schriller, mitreißender Vitalität und Tableaus von eigentümlicher Schönheit.

„Leid und Herrlichkeit“ – mit dem besseren Originaltitel „Dolor y gloria“, Schmerz und Ruhm – ist das erste Altersmeisterwerk des 69-jährigen Almodóvar (Ab Donnerstag in 14 Berliner Kinos). Jenes Regisseurs aus der Provinz von La Mancha, der mit Filmen wie „Im Labyrinth der Leidenschaft“ und „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ zum Protagonisten der Movida wurde, der freiheitstrunkenen, hedonistischen Post-Franco-Ära im Madrid der 80er Jahre.

Original. Pedro Almodóvar, 69, wurde mit seinen Filmen zum Protagonisten der Movida, der Post-Franco-Freiheitsbewegung der 80er Jahre.
Original. Pedro Almodóvar, 69, wurde mit seinen Filmen zum Protagonisten der Post-Franco-Freiheitsbewegung der 80er Jahre.

© Studiocanal

Auch wenn Almodóvar in letzter Zeit ins sentimentale Fach abzudriften drohte: Spanien verdankt ihm verwegenes Autorenkino, exzentrische Heldinnen, den ersten schwulen Kuss der spanischen Filmgeschichte, eine Abrechnung mit dem sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche („La mala educación“) – und den Aufstieg des Polizistensohns Antonio Banderas zum Leinwandweltstar. Als der Film im Mai in Cannes Premiere feierte, bescherte er Banderas eine Goldene Palme.

Schmerz und Ruhm: So hat man den Pistolero- und Zorro-Darsteller noch nicht gesehen. Mit steifen Bewegungen, bedächtiger Gestik und todernstem Blick verkörpert Banderas das Alter Ego seines Weggefährten Almodóvar und strahlt eine derart intensive Traurigkeit aus, dass sie geradezu betörende Wirkung entfaltet. „Ich will, dass du jemanden spielst, der ungefähr 60 Prozent des Films high ist, aber ich möchte es nicht sehen“, sagte Almodóvar zu ihm, wie Banderas im Interview mit der „Zeit“ erzählt.

„Du hast ständig Schmerzen, Rückenschmerzen, Schulterschmerzen, Migräne, kannst kaum aus dem Auto aussteigen, aber ich möchte es nicht sehen. Außerdem will ich, dass du mich spielst, aber ich möchte es nicht sehen.“ Keine Hollywoodtricks, das war die Ansage. Banderas fördert die Essenz seines Metiers zutage, er transzendiert die Schauspielerei.

Am Anfang schwebt dieser einst gefeierte Movida-Regisseur Salvador Mallo (fast ein Anagramm auf Almodóvar) im Hallenschwimmbad unter Wasser, reglos, mit einer großen Operationsnarbe auf Brust und Bauch. Erste Kindheitserinnerung: Die Mutter wäscht mit anderen Frauen am Bach, sie trällern und tanzen ein wenig, als sie die strahlend weißen Laken auf dem Gras zum Trocknen ausbreiten. Im Wasser glänzt die Seife, als sei sie ein Fisch. Eine verklärende Reminiszenz, wobei die leicht geschönten Bilder keinen Hehl aus ihrer Verklärung machen.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Zurück in der Gegenwart wird Salvador zur Premiere seines restaurierten Klassikers „Sabor“ in die Kinemathek eingeladen, sucht seinen damaligen Hauptdarsteller Alberto (Asier Etxeandia) auf, mit dem er sich vor 32 Jahren zerstritten hat, und sieht sich mit den schmerzlichen, verdrängten Seiten seiner Biografie konfrontiert. Alberto wird eine Kurzgeschichte von ihm als Solo auf die Bühne bringen, und Salvador fängt an, sich mit seinen Versäumnissen zu versöhnen.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Alleine die Leichtigkeit, mit der Wahrheit und Fantasie, Film, Theater und Realität ins Changieren geraten, ist einen Kinobesuch wert. Auch die Eleganz, mit der Almodóvar Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschränkt. „Ich mag keine Autofiktion“, schimpft Salvadors alte Mutter im Heim. Sie will nicht, dass ihre Dorfnachbarn wie Bauerntrampel dargestellt werden und dass die Sätze, die sie gerade sagt, demnächst in einem Film ihres Sohnes auftauchen. Ob Almodóvars eigene Mutter, Francisca Caballero, die hier und da kurz vor seiner Kamera stand, ähnlich geschimpft hat? Oder imaginiert er ihren Tadel posthum?

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Almodóvar betreibt in „Leid und Herrlichkeit“ jedenfalls selbstironische, melancholische, entwaffnend fröhliche Autofiktion. Der fiktive Anteil ist nicht nur der Anstreicher in der Höhlenwohnung, sondern auch der erst im Film realisierte Wunsch, der Mutter vor ihrem Tod 1999 wenigstens einmal gesagt zu haben: „Es tut mir leid, dass ich nicht der Sohn geworden bin, den du dir immer gewünscht hast.“

Im Film entwirrt sie vor dieser Aussprache ihre verhedderten Rosenkränze und gibt genaue Anweisungen für ihre Grablegung. Und Almodóvar verschmilzt ihrer beider Biografien: Der kleine Salvador bringt dem Analphabeten Eduardo Lesen und Schreiben bei, in Wirklichkeit war es Almodóvars Mutter, die für die armen Leute in der Nachbarschaft Briefe schrieb. Eine Hommage ist schon die Besetzung der jungen Mutter, einer tapferen, erschöpften, unendlich warmherzigen Frau: Wer würde sich von Penélope Cruz nicht gerne eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen lassen?

Die Wohnung von Salvador ist mit Almodóvars Möbeln ausgestattet

Der autobiografische Anteil reicht bis ins Detail. Die in knalligen Farben gehaltene, mit Pop-Art-Design und magisch-realistischen Gemälden bestückte Wohnung von Salvador ist mit Almodóvars eigenen Möbeln und Bildern ausgestattet. Banderas trägt Almodóvars Kleidung. Und nicht alle Leiden und Operationen, die im heiter animierten Kapitel „Anatomie“ wie in einer Litanei aufgelistet werden, dürften erfunden sein: Asthma, Tinnitus, Migräne, die Rückenschmerzen, die Wirbelsäulenversteifung … Die Krankenakte wird zur Komödie in eigener Sache.

Weil ein dermaßen beeinträchtigter Filmemacher keine Filme mehr drehen kann, entwickelt Salvador auch noch Depressionen. Dagegen behilft er sich mit einem bunten Pillencocktail. Und nach einer ersten Heroin-Friedenspfeife mit Alberto wird er schnell süchtig. Die Coolness, mit der Almodóvar vom Drogenkonsum erzählt, ohne etwas zu verharmlosen, macht ihm so schnell keiner nach.

Die Kunst verwandelt sich in das Leben zurück

Fellinis „8 1/2“, Godards „Verachtung“, Wim Wenders’ „Stand der Dinge“: Viele große Regisseure haben Introspektion und Selbstreflexion im Kino betrieben. „Leid und Herrlichkeit“ reiht sich in diesen Kanon ein. Gemeinsam mit langjährigen Mitstreitern wie dem exquisiten Kameramann José Luis Alcaine und dem ebenso exquisiten Komponisten Alberto Iglesias gelingt ihm ein opus summum, ohne je larmoyant zu werden. Mit Anspielungen auf Leitmotive seines Œuvres wie die Zeit im Jesuiten-Internat, das schwule Coming-out und die Energie der Frauen, mit Verneigungen vor Sängerinnen wie Chavela Vargas, mit Cameo-Auftritten von Almodóvar-Veteraninnen wie Cecilia Roth und Julieta Serrano in der Rolle der alten Mutter. Mit Banderas als seinem wichtigsten Schauspieler. Und mit einer Hommage an das Kino selbst, diesen gefährdeten Ort in Zeiten der Streamingdienste.

Alberto absolviert sein Theater-Solo auf einer nur mit einem Stuhl und einer Leinwand ausgestatteten Bühne und rezitiert den wunderbar sentimentalen Satz über das Dorfkino ihrer Kindheit, in dem es nach Pisse, Jasmin und Sommerwind roch. Weil die Bilder im Freien auf die Hauswand projiziert wurden.

Salvadors Arbeitslust erwacht neu, als er Federico noch einmal begegnet, der Liebe seines Lebens. Der hatte, ebenfalls reiner Zufall, den Solo-Abend gesehen und ihre Geschichte wiedererkannt. Beim Abschied küssen sich die beiden. Ein heftiger Kuss an der Wohnungstür, der all den Sex enthält, den sie in den Achtzigern miteinander hatten. Solche Küsse sind selten im Kino. Und die Kunst verwandelt sich in das Leben zurück.

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